Krisjanis Karins dürfte Ministerpräsident bleiben
Zwischenstand der Saeimawahl, Foto: UB
Jauna Vienotiba ist mit Abstand Wahlsieger
Am Wahlabend des 1. Oktobers 2022 zeichnet sich ein überwältigender Wahlsieg der Regierungspartei des Ministerpräsidenten ab. Seine Partei Jauna Vienotiba (Neue Einigkeit), die nach internen Streitigkeiten 2018 als kleinste Fraktion ins Parlament einzog, hat ihren Wähleranteil nach Auszählung von 740 Wahlbezirken mit 17,6 Prozent vervielfacht. Als Kompromisskandidat musste Krisjanis Karins nach Amtsantritt eine Koalition aus fünf Fraktionen anführen, von der sich eine während der Legislaturperiode zerlegte. Doch Karins hielt die fragile Regierung zusammen und offenbar schätzt ein beträchtlicher Teil der Wählerschaft in Krisenzeiten eine Partei mit Regierungserfahrung.
Verluste für die übrigen Koalitionsparteien
Dennoch wird Karins die bisherige Koalition nicht einfach fortsetzen können. Seine Partner haben allesamt Verluste zu verzeichnen, die Konservativen sogar den Einzug ins Parlament verpasst. Die Nationale Allianz schneidet etwas schwächer ab als in den letzten Prognosen erwartet und verliert leicht. Für das liberale Parteienbündnis Für Entwicklung/Pro (AP) ist das Ergebnis mit derzeit 5 Prozent noch enttäuschender, muss sogar um den Wiedereinzug bangen. Die Partei besetzte in der Pandemiezeit das Gesundheitsministerium; Ilze Vinkele musste zurücktreten und auch die Gesundheitspolitik von Daniels Pavluts war umstritten. Die zeitweilige AP-Innenministerin Marija Golubeva konnte sich mit einer liberaleren Haltung gegen die Nationalkonservativen nicht durchsetzen und trat ebenfalls zurück (LP: hier). Viele Äußerungen des AP-Verteidigungsministers Artis Pabriks passen kaum zu einer liberalen Partei; seine Ansichten zu SS-Legionären entsprechen einer nationalkonservativen Haltung; im Konflikt mit Russland fordert er den ukrainischen Sieg und wünscht erst danach Verhandlungen; zu Deutschland befragt profiliert er sich in Interviews als lettischer Melnyk (LP: hier).
Mögliche neue Koalitionspartner
Die einzige Spannung, die sich aus diesem Wahlabend ergibt, ist die Frage nach den weiteren Regierungspartnern; denn die verbliebenen Koalitionsparteien haben keine Mehrheit. Zunächst ist an die voraussichtlich zweitstärkste Fraktion zu denken, die Vereinigte Liste, eine Wahlliste, die die konservativen Grünen mit Regionalparteien bilden. Die Grünen traten zuvor mit der Bauernpartei im Bündnis Union der Grünen und Bauern (ZZS) an; sie wurden aber abtrünnig, weil der bisherige Partner abermals den umstrittenen Politiker Aivars Lembergs zum Spitzenkandidaten kürte (LP: hier). Die Trennung von Lembergs macht eine Regierungsbeteiligung der Grünen wahrscheinlich. Die bisherigen Koalitionsparteien sind strikt transatlantisch ausgerichtet und beargwöhnen Lembergs, den sie als Oligarchen bezeichnen, der ein diplomatischeres Verhältnis zu Russland wünscht. Lembergs, langjähriger Bürgermeister von Ventspils, machte sich allerdings mit fragwürdigen Geschäften angreifbar und muss sich vor Gericht verantworten, war sogar schon vorübergehend in Haft und befindet sich im Revisionsverfahren (LP: hier). Falls Karins wie bei der letzten Regierungsbildung noch eine fünfte Partei benötigt, dürften die Koalitionsverhandlungen schwieriger werden. Nicht nur die ZZS gilt als Oligarchenfraktion, auch die neu einziehende Lettland an erster Stelle wird von einem Businesspolitiker angeführt, der von seinen transatlantischen Gegnern als Oligarch bezeichnet wird: Der ehemalige Verkehrsminister Ainars Slesers meldet sich mit seiner Neugründung in die Politik zurück. Bei aller berechtigten Kritik an seinem Agieren muss man ihm zugute halten, dass er zu den wenigen Kräften gehört, die die ethnische Spaltung überwinden. Vor einem Jahrzehnt verhalf er mit seiner damaligen Stadtpartei dem Saskana-Bürgermeister Nils Usakovs ins Amt: Usakovs war der Favorit der Russischsprachigen. Slesers wendet sich an alle Ethnien des Landes, sich an seinem neuen politischen Projekt zu beteiligen. Ebenso multiethnisch gibt sich ein weiterer Neuling, Stabilität!. Die Partei fordert das Wahlrecht für Nichtbürger, was de facto die Abschaffung des Nichtbürgerstatus` bedeutet. Das Programm erscheint als ein diffuses Gemisch aus linken und rechten Positionen und ist EU-skeptisch. Ebenso unwahrscheinlich scheint eine Regierungsbeteiligung der Progressiven. Sie bezeichnen sich als sozialdemokratisch; so dass lettischerseits auch mal eine linke Partei in der Saeima vertreten ist. Mit einem linken Programm ist die neue Kraft weder mit den nationalistischen Positionen der Nationalen Allianz vereinbar noch mit den wirtschaftsliberalen der Neuen Einigkeit. Doch in der Praxis zeigen die Progressiven bereits geschmeidige politische Flexibilität. Sie beteiligen sich an der Rigaer Stadtregierung in einem Bündnis mit den Nationalkonservativen. Im Streit um den Abriss des Siegesdenkmals nahmen die Progressiven keine vermittelnde Position ein, sondern befürworteten an der Seite ihrer Koalitionspartner die Beseitigung dieses zentralen Objekts russischer Identifikation (LP: hier).
Der größte Wahlverlierer
Die bislang stärkste Fraktion der Saeima, Harmonie, die als sozialdemokratische Vertreterin der Russischsprachigen gilt und von ihren Gegnern als Kreml-Partei diffamiert wird, erlebt einen Absturz ins Reich der Splitterparteien. Sie ist zukünftig nach derzeitigem Stand nicht mehr im Parlament vertreten. Politische Beobachter vermuten, dass die russischsprachige Wählerschaft der Partei verübelten, am 24. Februar 2022 den russischen Einmarsch in die Ukraine verurteilt zu haben (LP: hier). Aber auch Lettlands Union der Russen, die Positionen unerbittlicher formuliert und trotz Verbots gegen den Abriss des Siegesdenkmals demonstrierte, konnte von dieser Unzufriedenheit nicht profitieren. Ein Teil der russischsprachigen Wählerschaft könnte diesmal Slesers` Partei oder Stabilität! gewählt haben, doch die Mehrheit der lettischen Russen dürfte diesmal zuhause geblieben sein. Wie wird die russischsprachige Minderheit zukünftig ihren politischen Willen kundtun? Gemeinsam mit Letten in ethnisch liberaleren Parteien? Oder wird sie sich außerparlamentarisch äußern?
Wahlbeteiligung
Mit 58,98 Prozent* ist entgegen der Erwartung des Wahlforschers Arnis Kaktins die Wahlbeteiligung leicht höher als 2018, was die LTV-Gesprächsrunden aus Politikern und Journalisten als positives Zeichen deuteten (LP: hier). Doch verglichen mit der ersten Wahl nach der Unabhängigkeit, als Wahlbürger sich zu 89,9 Prozent beteiligten, erscheint auch dieses Ergebnis dürftig angesichts der brisanten politischen Lage, die unmittelbare Auswirkungen auf das tägliche Dasein hat. Die Skepsis der Letten gegenüber ihren Parlamentariern, die regelmäßig aus Umfragen hervorgeht, ist nach wie vor beträchtlich.
Dass in Lettland die Auszählung länger dauert als in Deutschland hat einen besonderen Grund: Lettische Wähler haben mehr Rechte, weil man auf einem lettischen Wahlzettel die von den Parteien aufgestellten Kandidaten entweder begünstigen oder streichen kann. Das ist deutlich demokratischer als das deutsche Verfahren, wo Stimmbürger die Kandidatenliste ihrer Parteien akzeptieren müssen. Doch dadurch werden die Auszählungen an lettischen Wahlurnen langwieriger.
*Im Endergebnis wird die Wahlbeteiligung noch etwas höher ausfallen, doch das ändert nichts an meiner Einschätzung.
Udo Bongartz
Atpakaï