Latvieðu Centrs Minsterç

   
127192

Lettische Bürger beteiligen sich am EU-Projekt "Neues Europäisches Bauhaus"
03.12.2022


Großer Sanierungsbedarf in den Plattenbauvierteln

Ein Mikrorajons in Riga, Foto: UB

In den 20er Jahren war das "Bauhaus" eine Kunstschule, die das Design und die Architektur weltweit revolutionierte. Die Dozenten und Studenten entwarfen Wohnungen und Möbel, die auch sozial Benachteiligten das Wohnen in hellen und komfortablen Räumen ermöglichen sollte. Die Ästhetik war funktionalistisch und verzichtete auf schmückenden Zierrat. So entstanden wegweisende Musterhäuser. Doch wie so vielen guten Ideen widerfuhr auch der Bauhaus-Architektur so manche Verzerrung und Verunstaltung. Seit den 60er Jahren entstanden in West und Ost großflächige Betonsiedlungen mit aufeinander gestapelten Etagen, die nichts mehr vom ursprünglichen Reiz der Bauhaus-Architektur an sich hatten. Dennoch waren die Wohnungen zunächst begehrt, weil dort so mancher Bewohner erstmals über fließend warmes Wasser, Bad und Zentralheizung verfügte. Im sowjetischen Raum verbreiteten sich besonders unwirtliche Varianten funktionalistischer Architektur, die sich heutzutage als Problemviertel erweisen. Viele Städte des Ostens sind von Chrustschowkas und Breschnewkas geprägt, nummerierte und uniforme Wohnblocktypen, die sich zwischen Kaunas und Wladiwostok in der Landschaft verstreut finden. 70 Prozent aller Wohnhäuser auf lettischem Territorium sind zwischen 1946 und 1990 entstanden; darin wohnen die Hälfte aller Einwohner der mittleren Baltenrepublik. Heute besteht erheblicher Sanierungsbedarf. Die EU-Initiative "Neues Europäisches Bauhaus" soll Abhilfe schaffen.  


Meistens sind lettische Bewohner von Plattenbauwohnungen deren Eigentümer. Sie nutzten nach der Unabhängigkeit, als staatlicher Besitz unter den Bürgern aufgeteilt wurde, die Möglichkeit, die eigenen vier Wände für die erhaltenen Anteilsscheine am Volksvermögen zu erwerben. Doch häufig fehlt ihnen das Geld, um die Kosten für notwendige Sanierungen aufzubringen; zudem müsste man sich in Eigentümergemeinschaften erst einmal einig werden. Deshalb ist der Sanierungsstau groß. So mancher maroder Balkon könnte dem Nachbarn bald auf den Kopf fallen. Die dünnen Wände, Einfach-Verglasung und nicht regulierbare Heizkörper verursachen hohe Nebenkosten, rostige Wasserrohre Wasserschäden und Nachbarschaftsstreit. Wer ein Fahrrad hat, muss es in die eigene Wohnung hochschleppen. Doch am schlimmsten ist in solchen Mikrorajons die Aussicht auf die nächste graue Betonfassade, die sich eigentlich nur mit Alkohol ertragen lässt.


Die EU-Initiative "Neues Europäisches Bauhaus" finanziert Projekte, die neues Denken zugunsten eines ökologischen Umbaus fördern. Das Ziel ist, Wissenschaftler, Architekten, Ingenieure, Kulturwissenschaftler und Sozialarbeiter mit der Bürgerschaft zusammenzubringen, um gemeinsam die Erneuerung der vorhandenen Architektur zu planen. Das Alte soll ressourcenschonend weiter genutzt, aber verbessert und verändert werden.  


Janis Kinasts, "Botschafter" des Neuen Bauhauses, veranstaltet derzeit in der ostlettischen Region Lettgallen Informationsabende (lsm.lv). Seiner Ansicht nach ist die Zeit für ein radikales Umdenken gekommen: "Um uns herum geschieht nun das, was vor drei Jahren noch undenkbar schien, doch nun Alltag ist. Beispielsweise Flucht oder die Schließung von Gebäuden wegen der Heizkostenrechnung. Das `Bauhaus` tritt dafür ein, sich vom Alten zu befreien und radikale Änderungen vorzunehmen." Im Interview mit der LSM-Journalistin Dace Iwanowa hofft Kinasts auf kleine Gruppen, die als Avantgarde der Gesellschaft den Weg weisen: "Ich freue mich immer und bin bestrebt, einer kleinen Anzahl von Menschen alles zu geben. Die Welt und die Geschichte sind voll von Beispielen, dass kleine Gruppen imstande sind, große Dinge zu bewirken." Dabei hält er die persönliche Begegnung zwischen Menschen für besonders wichtig; PC und Internet reichten nicht.


Als Beispiele eines erfolgreichen architektonischen Wandels gelten die ehemaligen Waffenlager der Festung Daugavpils, in denen das Mark Rothko Art Centre und ein Museum für Industriedesign eingerichtet wurden. In der ostlettischen Stadt engagiert sich die Bürgerinitiative "Cita Daugavpils" (ein anderes Daugavpils) im Sinne Kinasts`. Inga Belousa ist eine Vertreterin der Gruppe. Sie hat kein Interesse, Papier zu produzieren, das zu Büchern gebunden "hübsch in den Regalen anzuschauen" ist. Sie wünscht, dass Vorstellungen verwirklicht werden. "Vielleicht nicht alles, aber eine Auswahl der wichtigsten Dinge, von denen sowohl die Stadtbewohner als auch die Kuratoren den Eindruck haben: Ja, das ist das, was nicht verloren gehen dürfte."  


Als Ursula von der Leyen 2020 das EU-Projekt vorstellte, fand es schnell seine Kritiker. Jürgen Tietz meinte, die EU-Kommission habe nur ein "weiteres Label mit schmackhaften Fördertöpfen" geschaffen (tagesspiegel.de). Er bezweifelte, ob ausgerechnet die Bauhaus-Architektur, die für Abriss und neue Betonfassaden steht, die einen erheblichen Teil des klimaschädlichen Kohlendioxid-Ausstoßes verursachen, in der heutigen Situation noch maßgeblich sein kann. Insofern scheint der Name Bauhaus irreführend. Gleich bleibt allerdings der Anspruch, mit neuem Denken die Welt zu verändern.


Udo Bongartz 




 
      Atpakaï