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Lettische Künstlerinnen und Künstler diskutierten über die sozialpolitische Wirkung ihrer Werke
24.11.2022


Wie kommt man aus der Blase raus?

Janis Balodis arbeitete bei seinem Theaterprojekt mit den Einwohnern des Orts Lubana zusammen, Foro: Tropakristina, Paša darbs CC BY-SA 4.0, Saite

Kann Kunst gesellschaftliche und politische Entwicklungen beeinflussen und verändern? Wo liegt die Grenze zwischen Kunst und Propaganda; überschreiten Künstler sie, wenn sie AktivistInnen werden. Erreichen die Themen, die Künstler zur Debatte stellen, überhaupt die Massen? Darüber diskutierte in der Rigaer ISSP-Galerie am 23. November 2022 Lina Birzaka-Priekule, die über sozialpolitische Kunst in Lettland promoviert, mit Daniela Vetra, Ingrida Picukane, Konstantins Zukovs, Mailo Stern und Janis Balodis.


Birzaka-Priekule erläuterte in ihrem einführenden Vortrag, dass lettische Künstler in den letzten Jahren nach einer Phase der unpolitischen Poetisierung wieder sozialpolitische Wirkung erzielen wollen. Dabei könne man jene unterscheiden, die politisch Brisantes darstellen, von jenen, die selbst zu Aktivisten ihres Themas werden. Eine ihrer genannten Beispiele war die Körperkunst der in London lebenden Lettin Metra Saberova, die in ihrer Ausstellung Pimpin' Yo Mama Crib den eigenen Körper als Instrument zur Darstellung feministischer Themen nutzte. Saberova stellte in Frage, ob Frauen über ihren Körper frei verfügen können und inszenierte u.a. gynäkologische Eingriffe.


Ingrida Picukane erläuterte per Videokonferenz zugeschaltet ihr Projekt Sarkana upe (Roter Fluss) von 2016. Auch Picukane widmet sich feministischen Themen. An der Wand des Zentrums für zeitgenössische Kunst (LCCA) malte sie eine traurige Frau in einem Zimmer, die über den roten Menstruationsfluss zu ihren Füssen Tränen vergießt. Zudem konzipierte sie die Zeitschrift Samanta, die u.a. Bodyshaming thematisierte. Picukane berichtete über Hasskommentare im Internet, die einerseits verletzend für die Urheberin waren, andererseits verdeutlichen, dass ihr Projekt eine gewisse Wirkung zeigte und Betrachterinnen und Betrachter nicht kalt ließ.


Konstantins Zukovs (ebenfalls zugeschaltet) und Mailo Stern beschäftigen sich mit identitätspolitischen Inhalten. Zukovs erinnerte in seiner Ausstellung Schwarze Nelke an das Leben der Homosexuellen in den 20er und 30er Jahren. Damals existierte ein Rigaer Club mit diesem Namen, der ein homoerotischer Treffpunkt war. Mailo Stern, der oder die sich auch Laura Sterna nennt, organisierte mit anderen die Ausstellung +/- Kinder. Thema waren die unterschiedlichen Einstellungen zur Frage, wie bedeutsam Kinder für Rollenerwartungen und Sinnerfüllungen sind und wie stereotyp es ist, Weiblichkeit mit der Mutterrolle zu identifizieren.


Daniela Vetra veranstaltet öffentliche Kunst-Aktionen, in denen sie und andere Darsteller sich zwischen Speeren zwängen, auf Wände kritzeln und schmieren, pantomimisch-expressiv ihre inneren Konflikte zum Ausdruck bringen. Vetra findet die Motivation zu ihren Projekten in internationalen Bewegungen wie Black Lives Matter oder die Frauenproteste in Polen gegen die Beschränkungen des Abtreibungsrechts. Sie versteht ihre Arbeit als Bekenntnis der inneren Unentschiedenheit und Unentschlossenheit, einerseits aus Gründen der Selbsterhaltung politisch untätig zu bleiben, andererseits idealisierten Menschen wie Janis Lipke nachzueifern, der während der deutschen Besatzung zahlreiche jüdische Bürger unter eigener Lebensgefahr rettete.


Was Vetra in diesem Zusammenhang beschäftigt, sind die Aggressionen, die sich in den politischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre verschärft haben. In der Diskussion zweifelte sie an der Behauptung, dass heutzutage in einer liberalen Gesellschaft sich jeder frei äußern könne und stellte die politische Korrektheit infrage, die freie Meinungsäußerung erschwert. Die anderen Teilnehmer in der Runde beobachteten, dass sich die gesellschaftlichen Gruppen, auch die künstlerischen, in eigenen Blasen bewegen und zwischen diesen homogenisierten Räumen der "richtigen" Überzeugungen findet kaum noch Austausch statt, falls doch, nur in Form von Hasskommentaren, mit denen Andersgesinnte gemobbt werden.


Der Zweifel war erkennbar, ob politische Kunst unter solchen Umständen überhaupt die Massen erreichen und die Gesellschaft verändern kann. Die Künstlerinnen und Künstler widmen sich strittigen Themen der Gender- und Identitätspolitik und kämpfen für Minderheitenrechte. Das provoziert den konservativen Teil der Gesellschaft, der darin eine Gefahr für die traditionelle Familie erblickt. Die Regenbogenthemen spalten die Bevölkerung; den Liberalen stehen Nationalkonservative und kirchliche Konfessionen entgegen, die sexuellen Minderheiten das Recht auf staatlich anerkannte Partnerschaften verweigern. Der Riss geht mitten durch die Regierung; während der liberalkonservative Ministerpräsident Krisjanis Karins sich für sexuelle Minderheiten einsetzt, blockiert sein Koalitionspartner Nationale Allianz eine liberalere Gesetzgebung. Hier haben Kunstaktionen durchaus Wirkung, sie sorgen dafür, dass dieses Thema öffentlich präsent bleibt.


Eine Zuhörerin aus dem Publikum fragte, weshalb ökologische Themen von der politisch engagierten Kunst nicht berücksichtigt würden. Diese Frage stellt sich noch viel umfassender, denn hier erweist sich das derzeitige lettische Verständnis von sozialpolitisch engagierter Kunst als thematisch ziemlich eingeschränkt. An diesem Abend wurde vor allem Gender- und Identitätspolitisches vorgestellt. Das ist ein berechtigtes Anliegen; doch es gehört nicht zu den Alltagssorgen der gesellschaftlichen Mehrheit, die sich in diesen Zeiten fragt, ob sie die Preise im Supermarkt noch bezahlen kann oder wieso viele sich zu Vollzeitjobs verdingen müssen, mit denen man nur mühsam über die Runden kommt; sozialpolitisch engagierte Kunst müsste sich mindestens im gleichen Maß um Sozioökonomisches kümmern, besser noch das Sozioökonomische mit dem Identitätspolitischen verbinden, damit berechtigte Forderungen nicht gegeneinander ausgespielt werden, was heutzutage oftmals geschieht.


Wie man aus der eigenen Blase herauskommt, demonstrierte der Dramaturg und Regisseur Janis Balodis. Im Provinzort Lubana veranstaltete er mit 80 Einwohnern, darunter die Hälfte im jugendlichen Alter, eine Theateraufführung zum Erwachsenwerden. Beim Gemeinschaftsprojekt musste Balodis erst einmal zuhören und sich über die Vorstellungen und Wünsche aller Beteiligten informieren, ihre Erzählungen festhalten, bevor sie gemeinsam das Stück planten und probten. Derzeit wird das Stück in verschiedenen Kulturhäusern Vidzemes und Lettgallens aufgeführt.


Udo Bongartz 




 
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