Pabriks: “Wenn sich nichts ändert, dann hat die Europäische Union keine Zukunft”
Artis Pabriks, Foto: Saeima , CC BY-SA 2.0, Saite
Am 24. Januar 2022 gab Pabriks der auf transatlantische Positionen verpflichteten Bild-Zeitung ein Interview, in dem er der “aktuellen deutschen Politik” vorwarf, dass sie “in keiner Weise den Anforderungen der Nato, der EU und der deutschen Partner” genüge und dass sie “nicht in unsere Zeit” passe (bild.de). Die Weigerung der deutschen Regierung, Waffen an die Ukraine zu liefern, verglich er mit einem Passanten, der einen Überfall beobachte und dem Opfer zurufe, erst nach der Gewalttat zu helfen und dann den Krankenwagen zu bezahlen. “Die deutschen Politiker verstehen nicht mehr, was Abschreckung bedeutet,” behauptete Pabriks. Der derzeitige Diskurs über die Konflikte mit Russland gleicht jenem über die Flüchtlingskrise an den polnisch-baltischen Grenzen zu Belarus: Die nationalkonservativ geprägten osteuropäischen Staaten schicken sich an, die Meinungsführerschaft zu übernehmen und jene, die sich für die Rechte von Flüchtlingen bzw. um Entspannungspolitik bemühen, geraten in die Defensive.
Pabriks erläuterte, was er an der deutschen Außenpolitik bemängelt. Über finnischem Umweg hatte Estland Panzerhaubitzen aus aufgelösten NVA-Beständen erhalten, von denen es nun neun als “Defensiv”-Waffen an die Ukraine liefern möchte. Doch Militärexperten bezweifeln, ob sich Waffen in defensiv und offensiv unterscheiden lassen. Estland benötigt für sein Vorhaben eine deutsche Genehmigung, die Berlin offensichtlich nicht zu erteilen beabsichtigt. Für Pabriks verstößt die deutsche Weigerung gegen das Recht eines Landes, sich selbst zu verteidigen und sich dafür die nötigen Mittel zu beschaffen. Zudem warf der Minister der deutschen Regierung nicht nur “die Gas-Beziehungen und Nord Stream 2” vor, sondern auch die “zahlreichen deutschen Unternehmen”, die sich an Russland und China anschmiegten. Die deutsche Position habe “nichts mehr mit einer wertebasierten Außenpolitik zu tun”.
Pabriks wirft der deutschen Gesellschaft vor, einer “pazifistischen Nachkriegsphilosophie” anzuhängen und fordert einen “Wandel des Denkens” unter den Deutschen. Aber “dagegen sehen wir aktuell die größten Widerstände in Ihrem Land”. Deutschland solle “seine Philosophie gegenüber dem Einsatz von Gewalt und der Schaffung eines europäischen Verteidigungssystems verändern”. Deutschland müsse liefern und - offenbar im militärischen Sinne - eine Führungsrolle übernehmen. In dieser Führungsrolle wünscht sich Pabriks allerdings Deutschland nicht als unabhängig handelnde Macht, sondern, militärisch hochgerüstet, fest an “der Seite Europas und der transatlantischen Einheit”. Damit ist offenbar die Position der baltischen Staaten und der USA gemeint, die Pabriks mit der Haltung Europas gleichsetzt.
Denn auf die Frage, ob nicht auch andere EU-Staaten wie Frankreich, Italien und Spanien ähnlich wie Deutschland eine gemäßigtere Haltung in der Beziehung zu Russland einnähmen und ob er nicht eine Minderheitenposition vertrete, klingt Pabriks Antwort wie eine Drohung: „Wir hoffen, dass wir sehr bald in der Mehrheit sind. Denn, wenn sich nichts ändert, dann hat die Europäische Union keine Zukunft.” Im weiteren Verlauf des Interviews wird sichtbar, dass unbewältigte historische Konflikte die heutige lettische Außenpolitik mit bestimmen. Die Vermeidung eines Krieges um jeden Preis verglich er mit der britischen Appeasement-Politik vor dem Zweiten Weltkrieg: “Wir brauchen kein neues München 1938”. Ein Hinweis auf das osteuropäische Trauma, dass die Tschechoslowakei 1938 dem NS-Regime, aber vor allem die baltischen Staaten nach 1945 der Sowjetunion ausgeliefert wurden.
Doch für diese Nachkriegsordnung trägt Deutschland nur die mittelbare Verantwortung, dass sein angezettelter Krieg diese herbeiführte. Tatsächlich waren es Lettlands engste militärische Bündnispartner, USA und Großbritannien, die mit Stalin die Aufteilung Europas vereinbarten. Angesichts der derzeitigen Lage stellt sich wohl manchem deutschen Bürger mit pazifistischer Nachkriegsphilosophie die Frage, ob es klug war, dem Militärbündnis Nato beizutreten; die Nicht-Nato-Mitglieder Österreich und Schweiz sind in einer beneidenswerten Position und müssen sich bezüglich Waffenlieferungen und militärischer Beteiligung nicht unter einem fragwürdigen außenpolitischen Rechtfertigungsdruck setzen lassen.
Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn wirkt zuweilen auf dem Brüsseler Parkett recht allein auf weiter Flur. Im polnisch-belarussischen Flüchtlingskonflikt mahnte er vergeblich an, die Menschenrechte zu wahren; nun gehört er zu jenen, die die deutsche Zurückhaltung im Konflikt mit Russland öffentlich gutheißen (dlf.de). Auf die Frage, ob Deutschland ein verlässlicher Partner der Nato und der EU sei, antwortete er: “absolut”. Der Sozialdemokrat hält den Osteuropäern vor, dass ihre Absicht, das militärische Ungleichgewicht zwischen der Ukraine und Russland mit Waffen ausgleichen zu wollen, nicht funktionieren könne und er hält solche Überlegungen für “wirklich falsch”. Er vertraut darauf, dass eine große Mehrheit in Europa und in der Nato den Krieg vermeiden wolle und vertraut weiterhin auf Diplomatie.
Andreas Zumach, Taz-Korrespondent und erklärter Pazifist, macht für die “gefährlichste Zuspitzung” seit “Ende des Kalten Krieges” Putins Regierung verantwortlich (lebenshaus-alb.de). Im Gegensatz zu Pabriks hat für ihn die Vermeidung militärischer Konflikte oberhalb der bisherigen Kämpfe im Donbas allerdings oberste Priorität. Doch Zumach erinnert an die Mitverantwortung westlicher Staaten für das zerrüttete Verhältnis mit Russland. Es sei ein falsches westliches Narrativ, dass die Verschlechterungen der Beziehungen zu Russland erst mit der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion begonnen habe. Er erinnerte an das gebrochene mündliche Versprechen westlicher Politiker gegenüber Gorbatschow, die Nato nicht gen Osten auszudehnen. Zumach führt u.a. einen Youtube-Link an, in dem der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher dieses Versprechen vor den Kameras bestätigte. Dass die Osterweiterung dennoch erfolgte, werde nun mit angeblich legitimen Sicherheitsinteressen begründet.
So werde die vertraglich fragwürdige “ständige Stationierung” von 7000 “rotierenden” Nato-Soldaten in Polen und in den baltischen Ländern rechtfertigt; Russland aber werde der Anspruch auf seine Sicherheitsinteressen verwehrt. Während man Russlands Bestrebungen, seine Einflusssphäre zu erweitern, kritisiere, werde die mit der Nato-Osterweiterung vollzogene Ausweitung der eigenen Einflusssphäre unterschlagen oder schöngeredet. Nur wenn die westlichen Staaten diese Haltung aufgäben und ihre Mitverantwortung für die Verschlechterung der Beziehungen anerkennen würden, gebe es eine Chance auf bessere Beziehungen auf dem eurasischen Kontinent.
UB
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