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Lettland zahlt seiner Jüdischen Gemeinde 40 Millionen Euro Entschädigung
18.02.2022


Der NA-Abgeordnete Edvins Snore bezeichnete die Abstimmung als "Farce"

Das Gräberfeld von Terezin/ Theresienstadt. Hier unterschrieben 47 Länder die Absichtserklärung, jüdischen Besitz zu entschädigen, darunter auch Lettland, Foto: CherryX CC BY-SA 3.0, Link

Nachdem deutsche Soldaten Ende Juni 1941 Lettland besetzt hatten, begannen die Männer der SS-Einsatzgruppe A sogleich, jüdische Einwohner zu verfolgen. SS-Angehörige ermordeten, von lettischen Helfern unterstützt, etwa 75.000 lettische Juden. Ihre Immobilien gelangten in staatlichen Besitz, gehören folglich seit 1991 der unabhängigen lettischen Republik. Am 10. Februar 2022 beschloss die Saeima-Mehrheit ein Gesetz, das vorsieht, der jüdischen Gemeinde Lettlands in den nächsten zehn Jahren 40 Millionen Euro Entschädigung für 247 enteignete Immobilien zu zahlen. Die Kompensation bezieht sich nicht nur auf geraubte Güter während der NS-Besatzung, sondern auch auf Enteignungen, die unter sowjetischer Herrschaft erfolgten. Während die Jüdische Gemeinde Lettlands den Beschluss des lettischen Gesetzgebers begrüßte, stieß er bei den Abgeordneten der mitregierenden Nationalen Allianz (NA) auf heftigen Widerstand.


Ab 2023 werden dem Restitutionsfonds der Jüdischen Gemeinde jährlich vier Millionen Euro aus der Staatskasse gezahlt (lsm.lv). Zehn Jahre lang kann sie eigene Projekte finanzieren, zum Beispiel die Pflege jüdischer Erinnerungsorte oder den Erhalt von Holocaust-Mahnmalen, aber auch Überlebende des Holocaust materiell unterstützen. Laut Gesetz darf die Gemeinde das Geld nur für bestimmte Zwecke ausgeben; an der Überprüfung der Fondsausgaben wird sich ein Vertreter des Finanzministeriums beteiligen.  


Arkadijs Suharenko, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Lettlands, sprach auf der Webseite seiner Organisation den Dank für diese “historische Entscheidung” aus, die “unser Land und die Gesellschaft der Wiederherstellung von Gerechtigkeit näherbringt und mit der die Frage über die Rückgabe des Vorkriegsbesitzes der jüdischen Gemeinde beantwortet wird” (jews.lv). Die Jüdische Gemeinde habe zwei Jahrzehnte lang mit Historikern, Parteien, Parlamentariern, Regierung und internationalen Organisationen zusammengearbeitet, um dieses Gesetz auf den Weg zu bringen, dabei auch den gesellschaftlichen Dialog gesucht. “Wir freuen uns, dass unsere Position in weiten Kreisen der Gesellschaft und der Politik Verständnis gefunden hat,” meint Suharenko.


Doch nationalkonservative Politiker bekämpften das Gesetz, wollten es in der Dritten Lesung noch mit eigenen Änderungsanträgen torpedieren. NA-Abgeordneter Janis Dombravs kritisierte die angebliche Irreführung durch den Gesetzestitel “Über die gutwillige Entschädigung der Jüdischen Gemeinde Lettlands”, weil das Geld in Wirklichkeit nicht der Gemeinde, sondern den drei Gründern des Restitutionsfonds ausgezahlt werde. Er erweckte somit den Eindruck, als verfolgten die Fondsgründer persönliche Profitinteressen. (saeima.lv)


Aus nationalkonservativer Sicht trägt Lettland keine Mitverantwortung am Holocaust und an den Repressionen gegen jüdische Bürger unter nationalsozialistischer und sowjetischer Herrschaft. Dafür sind nach Lesart der lettischen Rechten ausschließlich die Nachfolgestaaten der repressiven Regime, also Deutschland und Russland, verantwortlich. Dombravs stellte dem Holocaust das allgemeine Schicksal der Letten entgegen, vermischte es auch mit dem jüdischen: Lettland gehöre zu jenen Ländern, die am meisten unter dem Zweiten Weltkrieg und seinen 45jährigen Folgen, also der sowjetischen Herrschaft, gelitten hätten. “Lettische Bürger wurden ermordet, sowohl im Zentralgefängnis, Rumbula, Baltezers, Bikernieki und anderswo. Tausende wurden festgenommen, in Waggons geworfen und nach Sibirien deportiert. Eine ganze Generation junger Männer wurde widerrechtlich in die Armeen zweier totalitärer Regime eingezogen und liegen für alle Zeiten auf den Schlachtfeldern. Jene Menschen... Familien... die nach dem Krieg sich dem Okkupationsregime widersetzten, wurden ermordet oder im Tscheka-Gebäude gefoltert. Das Leben unzähliger Familien wurde zerstört.”


Im Gesetzestext heiße es zwar, dass “Lettland keine Schuld trägt an den erfolgten Repressionen, doch zugleich... ist nicht wirklich klar, weshalb es nun die Verantwortung auf sich nimmt und tatsächlich diese Zahlung beschließt. Mein Vorschlag ist, klar zu formulieren, wer für diese erfolgten Repressionen verantwortlich ist, damit wir irgendwann in der Zukunft, wenn der politische Wille hinreichend groß und stark ist, Forderungen an jene Länder stellen können, sehr deutlich Forderungen zur Finanzierung stellen, welche wir mit der Annahme dieses Gesetzes vorgesehen haben.”  


Die 13 NA-Abgeordneten vermochten das Gesetz nicht zu verhindern, das mit einer Mehrheit von 63 von 100 Stimmen beschlossen wurde. Dombravs` Fraktionskollege Edvins Snore hatte in einem NRA-Interview schon einen Tag zuvor gegen Abgeordnete scharf polemisiert, die dem Gesetz zur absehbaren Mehrheit verhelfen würden. Er unterstellte den Abgeordneten unlautere finanzielle Interessen. Er nannte die Abstimmung eine "Farce", die mit der Wiederherstellung historischer Gerechtigkeit nichts zu tun habe und die von der Mehrheit des Volkes nicht unterstützt werde. "Deshalb tritt in den Saeima-Debatten faktisch niemand von ihnen auf und vertritt öffentlich diesen `guten Willen`, sie stimmen einfach stumm dafür, damit die Sache erledigt werde." (nra.lv)


Ein Teil der Abgeordneten stimme laut Snore so ab, weil die USA es wollten, andere hätten persönliche Interessen, die er aber nicht näher erläuterte. Dann sprach er von "Holocaust-Gesandten", die nach Lettland und Polen reisten. Der NA-Politiker begrüßt es, dass die polnische Regierung deren Ansprüche ablehne. Diese Gesandten aus den USA begründeten ihre Forderungen mit der Terezin (=Theresienstadt) Deklaration von 2009, in denen 47 Staaten, unter ihnen Deutschland und Lettland, rechtlich unverbindlich die Absicht erklärten, jüdischen Besitz zu entschädigen, diese Deklaration beziehe sich aber nicht auf Lettland. Wenn auch die übrigen Fraktionen klar die lettische Position formulierten, statt unterwürfig allem zuzustimmen, könne man die 40 Millionen beispielsweise zur Kompensation der Stromrechnungen der lettischen Einwohner verwenden.


Tatsächlich lieferten in der abschließenden Saeima-Debatte hauptsächlich NA-Abgeordnete Redebeiträge; doch Aigars Bikse, ein Abgeordneter des liberalen Parteienbündnisses und Koalitionspartners Attistibai/Par!, stellte sich der nationalkonservativen Geschichtsinterpretation entgegen: "Doch heute, wenn der Beschluss über Kompensationen gefasst wird, werden wir, der lettische Staat, nicht diese abscheulichen Untaten gegen Menschen finanziell entschädigen. Wir entschädigen nicht den Schmerz, nicht das unfassbare Schicksal, welche diese Menschen in dieser tragischen Geschichtsepoche heimsuchte. Die Entschädigung wird für Besitztümer geleistet, die diesen Menschen gehörten und welche nun der lettische Staat besitzt. Viele meiner Freunde, Nachbarn fragen, weshalb müssen wir diese Entschädigung zahlen? Ich kann antworten, dass, falls ein kleines Sommerhaus in euren Besitz käme und ein kleines Grundstück, weil irgendein grausamer und blutrünstiger Mörder die ganze Familie und Angehörigen der Nachbarn, denen das gehörte, umbrachte, alle Kinder, Frauen, Alten, so dass kein offizieller Verwandter mehr übrig bliebe, und die Immobilie nun in eure Hände gelangte, dann eines Tages entfernte Verwandte des ehemaligen Nachbarn, die kein juristisches Anrecht auf diesen Besitz haben, um Entschädigung des Werts dieser Immobile bitten, nicht deshalb, weil ihr daran Schuld hättet, was geschehen ist, sondern deshalb, weil der Besitz nun euch gehört und diese Leute sagen, dass sie mit diesem Geld die entfernten Angehörigen der Ermordeten unterstützen und das Gedenken an die Toten pflegen, ob ihr dann nicht wirklich ein für allemal die Rechnung mit der furchtbaren Vergangenheit begleichen wollt? Wollt ihr tatsächlich mit dieser Geschichte, auf welchem Weg dieses Eigentum in euren Besitz gelangte, ein Leben lang aufstehen und wieder zu Bett gehen und sie euren eigenen Kindern und Enkeln erzählen? Ich möchte das nicht."

Udo Bongartz




 
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