Lettland: Corona beschleunigt die gesellschaftliche Spaltung in Arm und Reich
24.11.2021
Ökonomen bewerten die hohe Armutsquote als Belastung für die lettische Volkswirtschaft
Ein Rigaer Restaurant, ein Arbeitsplatz für die einen, eine Vergnügungsstätte für die anderen, Foto: Kalnroze, CC BY-SA 3.0, Saite
Lettland gehört zu den sozial ungleichsten Ländern der EU und die Pandemie hat hierzulande den Gegensatz zwischen Armen und Wohlhabenden weiter vergrößert. Diesen traurigen Befund erörterte LSM-Journalistin Daina Zalamane mit Ökonomen (lsm.lv).
Die Eurostat-Tabelle zur Armutsstatistik ist kein Ruhmesblatt für die lettische Nation: Im letzten Jahr lag ihre Armutsgefährdungsquote bei 21,7 Prozent (ec.europa.eu). Das bedeutet, dass die Betroffenen inklusive erhaltener Sozialleistungen weniger als 60 Prozent des nationalen Medianeinkommens zur Verfügung haben. Diese Quote misst nicht, ob ein Land im internationalen Vergleich reich oder arm ist, sondern den Anteil jener Einwohner, die sich unterhalb eines Einkommensniveaus befinden, mit dem sich am allgemeinen gesellschaftlichen Leben teilnehmen lässt. In der EU sind lediglich die Armutsgefährdungsquoten von Bulgarien und Rumänien größer (noch liegen die Angaben aus Italien und Irland für 2020 nicht vor, doch diese beiden Länder werden Lettland wahrscheinlich nicht überrunden). Die mittlere Baltenrepublik rangiert seit vielen Jahren in der Spitzengruppe sozialer Ungleichheit. Die Ökonominnen Krista Kalnberzina und Ludmila Fadejeva beschrieben in einem eigenen Artikel, welche Gruppen besonders betroffen sind (makroekonomika.lv). Pi mal Daumen lässt sich feststellen: Je älter, desto ärmer. Das Armutsrisiko der Ältesten, der über 74jährigen, ist mit etwa 50 Prozent das höchste, dann folgen abgestuft die jeweils jüngeren Altersgruppen. Zudem tragen Erwerbslose und Behinderte ein deutlich höheres Risiko.
Die Pandemie hat die missliche Lage für die Geringverdiener verschärft. Evija Kropa, Finanzexpertin der Swedbank, fand in einer Umfrage heraus, dass seit Corona 36 Prozent der lettischen Haushalte regelmäßig Schwierigkeiten haben, ihre Rechnungen zu bezahlen; andererseits stieg das Sparvermögen der Wohlhabenden um eine Milliarde und umfasst inzwischen neun Milliarden Euro. Für Kropa ist dieser Armutsbefund besorgniserregend: “Logischerweise sind es jene, die ein geringes Einkommen und außerdem keine Ersparnisse haben. Aus den Mustern erkennen wir, dass dazu Ein-Personen-Haushalte zählen, aber auch Alleinverdiener, die noch mit heranwachsenden Kindern zusammenleben, so dass die Ausgabenlast besonders hoch ist. Und gewiss die Senioren. Was sich in diesem Jahr zeigt: Zu den Senioren kommt das Segment der Jugendlichen hinzu. Sie arbeiten sehr häufig, beispielsweise in Gaststätten oder Cafés, im Catering.”
Wie sich Gesellschaft allmählich spaltet: Die einen gehen in Restaurants, fahren in Urlaub, ordern Lebensmittel und Güter, die anderen bedienen oder liefern, nicht selten für miserablen Lohn. Zwar ist die Gesellschaft noch nicht vollständig gespalten. Man steht sich noch als Kunde und Dienstleister gegenüber, im Restaurant, im Hotel oder an der Haustür, wo der Lieferant die Ware überreicht; sonst aber findet die Wirklichkeit in getrennten Welten statt, denn selber können sich die Kellnerinnen, Lieferanten, Küchenhilfen oder Raumpfleger den eigenen Service, sei es den Gang ins Restaurant, Bestellungen beim Onlineversandhändler oder gar eine Fernreise, deutlich weniger leisten. Während der Lockdown-Zeiten müssen viele Geschäfte, Restaurants, Hotels oder Busunternehmen schließen bzw. ihr Angebot verringern. Während das für Wohlhabende ein Verzicht auf Vergnügen bedeutet, sich aber dafür ihr Sparvermögen anhäuft, entwickeln sich Ausgangssperren und verriegelte Geschäftsräume für die Ärmeren zur existenziellen Bedrohung: Die Erwerbsquelle geht verloren, das Einkommen entfällt und es befindet sich auch kein Notgroschen im Sparstrumpf.
Aus den Ergänzungen von Karlis Vilerts, einem Ökonomen der lettischen Zentralbank, lässt sich folgern, dass die Maßnahmen der Regierung den gesellschaftlichen Spalt vergrößerten: “Gewiss gab es in der Pandemiezeit beachtliche staatliche Unterstützung in Form von Kurzarbeitergeld, Lohnersatzleistungen und weiteres. Doch in solchen Berufen wie im Gaststätten- und Dienstleistungsgewerbe gibt es einen vergleichsweise hohen Anteil der Schattenwirtschaft und der Schwarzarbeit. Da die Unterstützungszahlungen im großen Maß an geleistete Steuern und Abgaben gebunden sind, war für diese Gruppen der Gesellschaft auch der Anteil der Ausgleichszahlungen nicht so hoch wie die Einkommmensverluste durch die Pandemie.”
Vilerts erläutert, dass sich 90 Prozent der Ersparnisse bei den Wohlhabenden anhäuft, dazu zählt er Haushalte, wo jedes Mitglied über ein monatliches Einkommen von mindestens 750 Euro verfügt. Zu den Armen, die nichts zum Sparen haben, zählt er jene, die mit weniger als 350 Euro zurechtkommen müssen. Janis Priede, Ökonomiedozent der Lettischen Universität fügt eine Zahl der lettischen Statistikbehörde CSP hinzu: 35 Prozent der lettischen Haushalte hatten im letzten Jahr gar keine Ersparnisse. Er hält das volkswirtschaftlich für eine missliche Situation, wenn die Zahl der armen Haushalte steigt: “Das bedeutet, dass dieser Teil der Gesellschaft Armutsrisiken unterworfen ist, die ständig ansteigen, und das ist bestimmt nicht gut für die Wirtschaft.”
UB
Atpakaï