Lettland: Fast jeder vierte Einwohner gehört zu den Armen
28.12.2022
Hohe Inflation verschärft die Situation
Im Jahr 2021 war Lettland bei der von Eurostat berechneten Armutsgefährdungsquote unrühmlicher Spitzenreiter. Man erkennt, dass inzwischen auch west- und südeuropäische Länder wie Spanien und Italien überdurchschnittliche Armutsquoten aufweisen. Deutschland und Schweden, die sich einst ihrer Sozialstaaten rühmten, sind nur noch Mittelmaß. In Tschechien ist die Armutgefährdungsquote am geringsten. Datenquellen: Armutsgefährdungsquote in den EU-Ländern 2021 | Statista, Schwellenwert für Armutsgefährdung in Deutschland und Ländern Europas 2021 | Statista, Statistics | Eurostat (europa.eu)
Das Zentrale Statistikamt Lettlands (CSP) veröffentlichte am 27. Dezember 2022 Zahlen zum Armutsrisiko im letzten Jahr (stat.gov.lv). Demnach waren rund 418.000 Einwohner "armutsgefährdet", wie es im EU-Jargon heißt. Das entspricht einem Anteil von 22,5 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Im Vergleich zu 2020 verringerte sich laut CSP die Armutsgefährdungsquote um 0,9 Prozent. Trotz der leichten Verbesserung gehört Lettland zu den Ländern der EU, in denen Menschen überdurchschnittlich oft arm sind. Das lettische Bürgerrechtsbüro warnt, dass die enormen Preissteigerungen für Energie und Lebensmittel die Situation verschärfen werden.
In den letzten Jahren sind die lettischen Löhne und Gehälter im EU-Vergleich überdurchschnittlich gestiegen; das hob auch die sogenannte Armutsgefährdungsschwelle an, nach ihr gilt als armutsgefährdet, wer weniger als 60 Prozent des nationalen Medianeinkommens erwirtschaftet oder als Sozialleistungen erhält. 2020 galt ein Alleinstehender in Lettland als armutsgefährdet, wenn er weniger als 472 Euro monatlich zur Verfügung hatte; 2021 benötigte er schon 513 Euro, um sich vor Armut zu sichern. Das größer werdende Einkommen für die Mehrheit bedeutet das soziale Abgehängtwerden jener, deren Einkommen stagnieren. Laut CSP betrug der Anteil der Armutsgefährdeten in den letzten acht Jahren stets deutlich über 20 Prozent. Regional waren 2021 besonders Vidzeme (ohne Riga und Umland) mit 36,2 Prozent betroffen - noch vor Lettgallen mit 34,6 Prozent. Den geringsten Anteil wiesen Riga mit 15,9 und Rigas Umland mit 16,6 Prozent auf.
Auf verschiedene soziale Gruppen bezogen ermittelten die CSP-Statistiker bei Haushalten mit einem Erwachsenen und Kindern einen Rückgang der besagten Quote um 8 Prozent - sie blieb aber auch 2021 mit 29,4 Prozent überdurchschnittlich hoch. Die ärmste Gruppe bilden weiterhin alleinstehende Senioren, sie sind zu 68,4 Prozent arm bzw. von Armut bedroht. Auch hier verzeichnete das CSP einen Rückgang um 5,2 Prozent. Junge Erwachsene zwischen 18 und 24 Jahren waren 2021 zu 19,7 Prozent armutsgefährdet, 1,6 Prozent mehr als im Vorjahr.
Laut CSP bewirkten Sozialtransfers, die in diesen Zahlen bereits eingerechnet sind, eine Milderung. Die Statistiker weisen auf die Anhebung des Minimaleinkommens, eine Art Sozialhilfe für Menschen mit Behinderungen, die erhöhte Mindestrente, die Unterstützungszahlungen während der Lockdowns für Kinder und Senioren. Trotz dieser staatlichen Leistungen steht Lettland im EU-Vergleich schlecht da.
Eurostat ermittelt die Zahlen zu anderen Zeiten. Die Armutsgefährdungsquote betrug nach Eurostat-Angaben im letzten Jahr 23,4 Prozent und nicht schon 2020, wie es das CSP verkündet (ec.europa.eu). Laut Eurostat hatte Lettland damit vor einem Jahr die höchste Armutsgefährdungsquote innerhalb der EU, sie war um 6,6 Prozent höher als der EU-Durchschnitt; damit lag Lettland noch vor den ewigen Spitzenreitern prekärer sozialer Verhältnisse, Rumänien und Bulgarien, unrühmlich an erster Stelle.
Die weltweite Lockdown- und die westliche Sanktionspolitik gegen Russland bewirkten Lieferengpässe und Warenknappheit, damit heftige Preissteigerungen gerade bei Gütern für den lebensnotwendigen Bedarf. In Lettland betrug die Jahresinflation im letzten November 21,8 Prozent; die Händler der Lebensmittelbranche und die Energieversorger erhöhten in letzter Zeit die Preise rasant (lsm.lv).
Juris Jansons, der staatliche Beauftragte für Bürgerrechte, erstritt im letzten Jahr vor dem Verfassungsgericht eine Anhebung der Sozialleistungen. Doch nach Ansicht seiner Mitarbeiterin Ineta Rezevska reichen die erfolgten Erhöhungen angesichts solcher Preissteigerungen nicht aus (lsm.lv). Derzeit benötigten Verbraucher 188 Euro monatlich für Lebensmittel, das staatlich gezahlte Minimaleinkommen für Menschen mit Behinderungen liegt weit darunter. "Und für Menschen mit allergeringsten Einkommen [sind] die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel sehr, sehr dürftig. Tatsächlich muss man sich wundern, wie sie mit solchen Beträgen überleben können," kommentiert Rezevska die mangelhafte Absicherung und schildert die Notlage der sozial Benachteiligten. Die Mindestrente für Behinderte betrage lediglich 150 Euro monatlich. Im Januar soll dieser Betrag überprüft werden, doch bereits jetzt wisse man, dass sich die Annahme des kommenden Haushaltsentwurfs verzögern wird. "Somit bemerken wir, dass die neuen, ab Januar überarbeiteten Sozialleistungen nicht verfügbar sein werden. Auch in Anbetracht der Sozialhilfebeträge, für die anstelle von derzeit 109 Euro 125 Euro geplant sind, sehen wir weiterhin, dass sie unzureichend gering bleiben." Rezevska ist der Ansicht, dass die Inflation die Zahl der Armen weiter vermehren wird und dass auch jene betroffen sind, die vor den Preissteigerungen noch einigermaßen über die Runden kamen.
Die gerade ernannte Sozialministerin Evika Silina (Jauna Vienotiba) meint, dass zur Lösung des Armutsproblems und zur Minderung der Einkommensungleichheit noch viel zu tun sei. Als eine Hauptaufgabe betrachtet sie die vom Verfassungsgericht verfügte Überprüfung der Sozialleistungen und der Einkommensschwellen. Ihr Ministerium sei für die Anhebung der Beträge zuständig. Doch ihre Zusage bleibt vage, denn sie macht mehr Geld zur Armutsbekämpfung von den "Möglichkeiten des kommenden Jahresbudgets" abhängig.
Udo Bongartz
Atpakaï