Lettland: Initiative fordert für alle Saeima-Abgeordnete den Hochschulabschluss
14.10.2022
Kein Bildungsnotstand im lettischen Parlament
Tag der offenen Tür in der Saeima, Foto: Ieva Âbele, Saeima
Eine Initiative fordert auf Manabalss.lv (meine Stimme) für alle Parlamentarier einen akademischen Abschluss. Auf dieser digitalen Plattform, die Bürgern die Möglichkeit bietet, Gesetzesinitiativen einzubringen, können seit dem 12. August 2022 Internet-Nutzer mit lettischem Pass ab 16 Jahren dafür stimmen (also keine “Nichtbürger). Nun hat die Aktion mit dem Titel “Für die obligatorische Hochschulausbildung für Saeima-Abgeordnete” bereits über 10.000 Stimmen erreicht, so dass die Portalbetreiber die Forderung der gerade neu gewählten 14. Saeima überreichen werden. Die Abgeordneten beraten und entscheiden darüber. Sollten sie den Vorschlag ablehnen, könnte es unter Umständen zu einem Referendum kommen.
Seit 2011 besteht die digitale Bürgerplattform Manabalss, die einen Beitrag zur Demokratisierung der lettischen Gesetzgebung darstellt. Nach Angaben der Betreiber bietet die Webseite mit 54 Gesetzesänderungen, die aufgrund von Bürgeranträgen entstanden sind, ein weltweit einzigartiges Mittel der demokratischen Teilhabe. Zudem loben sie das wohlwollende Entgegenkommen der Saeima-Abgeordneten, die das Projekt und einzelne Initiativen unterstützen.
Trotzdem ist die Skepsis gegenüber den eigenen Parlamentariern in Lettland besonders groß. Die Initiatorin, die einen verbindlichen akademischen Abschluss für Saeima-Abgeordnete fordert, führt folgende Argumente an: Für die gerade gewählte Saeima haben nach ihren Angaben 1832 Personen kandidiert, von denen 34 eine Grundausbildung hatten (was in Deutschland in etwa einer neun- oder zehnjährigen Schulbildung entspricht) und 432 einen mittleren Abschluss (was dem Abitur entspricht) und “58 waren Arbeitslose, weitere Dutzende gaben an, dass sie von Beruf Hausmeister, Fahrer, Köche und Kosmetikerinnen sind.” Dass Erwerbslose auch Akademiker sein können, möchte ich hier nicht weiter kommentieren. Die Autorin beklagt, dass das lettische Gesetz für Abgeordnete keine besondere Qualifikation fordert. Das Wissen der Kandidaten über die staatliche Gesetzgebung und die Saeima-Arbeit werde nicht geprüft. “Deshalb können Personen zu Saeima-Abgeordneten werden, denen das Verständnis für die Tätigkeiten eines Abgeordneten und deren Bedeutung fehlt,” beklagt sie. Ihrer Ansicht nach erfordert diese Arbeit akademische Qualifikation, weil die Parlamentarier Spezialisten sein müssten mit Kenntnissen, wie man den Staat im Hinblick auf Wohlstand strukturiere.
Zuweilen hört man in Lettland, dass Abgeordnete nicht gebildet seien. Doch die Statistik verdeutlicht das Gegenteil. Dina Gaile nannte für die Zeitschrift Jurista Vards die Zahlen. Während der ersten Jahre der Unabhängigkeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Ulmanis-Diktatur hatte nur die Hälfte der Parlamentarier einen akademischen Abschluss, denn damals war das Bildungsniveau allgemein geringer. Seit der 5. Saeima, die nach der erneuten Unabhängigkeit gewählt wurde, stieg der Anteil von Hochschulabsolventen von 91 auf 96 Prozent bei der letzten, 13. Saeima. Die neue dürfte einen ähnlichen Prozentsatz aufweisen. Gaile beobachtet, dass die Frage nach der “Qualität” der Abgeordneten bei fast jeder Wahl gestellt werde; diesmal habe sie besondere Aufmerksamkeit erhalten, “weil in den Kandidatenlisten der 14. Saeima in großer Zahl sich extravagante Sternchen aus den sozialen Netzwerken und Influencer befanden, einige der Kandidaten nannten sich selbst professionelle Provokateure usw.” Offenbar hat die Berichterstattung über solche Phänomene die öffentliche Wahrnehmung verzerrt, die von einem allgemeinen Bildungsnotstand unter ihren Volksvertretern ausgeht.
Gaile erwähnt auch die Argumente der entgegengesetzten Kritik. Manche Soziologen oder Politikwissenschaftler befürchten, dass die Akademisierung der Parlamente einen Elitarismus zur Folge hat, so dass sich das Parlament von den Bürgern entfernt, die es vertreten soll, besonders jene prekarisierten Schichten, die im Sinne bürgerlicher Normvorstellungen nicht zu den Erfolgreichen und Vermögenden gehören. Diese Einschätzung belegt beispielsweise der deutsche Politikwissenschaftler Armin Schäfer mit seinen Studien. Er fand heraus, dass Regierungen Entscheidungen vor allem im Sinne der Vermögenden fällen und die Interessen der Armen vernachlässigen und er kritisiert die “Akademikerrepublik”, die nur noch Politik für ihresgleichen, der gehobenen Mittelschicht, betreibt. Im Deutschen Bundestag beträgt der Akademikeranteil 86 Prozent. In solchen Kreisen wisse man nicht oder bestenfalls aus zweiter Hand, ob man von Sozialhilfe wirklich leben kann oder welche Hürden ein Arbeiterkind im deutschen Bildungssystem überwinden muss (taz.de). Jene Politiker hingegen, die aus unterprivilegierten Gruppen stammen, würden auch deren Interessen vertreten.
Gaile erwähnt zudem eine weitere Kritik: In den meisten Parlamenten sind gewisse Berufsgruppen, allen voran Juristen, überrepräsentiert. Nun ist ein gewisser Überhang von Gesetzeskennern vielleicht gar nicht so schlecht in einer Institution, wo Gesetze gemacht werden. Doch in einer Volksvertretung sollten Abgeordnete unterschiedlicher Berufsgruppen und sozialer Milieus zu Wort kommen aus Gründen, die gerade genannt wurden.
Der bekannte Journalist Karlis Streips bezweifelt ebenfalls, ob Akademikermangel das Hauptproblem des lettischen Parlaments darstellt (la.lv). Er weist darauf hin, dass akademisch gebildete Politiker in den meisten Fragen der Tagespolitik selbst Laien sind und sich auf ihre Kollegen, die das betreffende Ressort leiten, verlassen müssen. Als Gegenbeispiel für die Annahme, dass Akademiker für Qualität sorgen, nannte er Aldis Gobzems, der sich als Enfant terrible der 13. Saeima erwies - Gobzems ist Jurist.
Udo Bongartz
Atpakaï