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Lettland: Seit der Pandemie steigt die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die psychiatrische Behandlung benötigen
19.10.2022


Suizidrate steigt wieder

Eingang zum Rigaer Kinderhospital, Foto: A.Buks - Paša darbs, CC BY-SA 2.5, Saite

Am Weltgesundheitstag veröffentlichte die psychiatrische Abteilung der Rigaer Kinderklinik alarmierende Daten (bkus.lv). Zwischen 2019 und 2021 erhöhte sich die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die mit akuten psychischen Störungen die Klinik aufsuchten, um 27 Prozent. Die Zahl derjenigen, die sich selbst verletzen oder sonstige psychische Störungen aufweisen, verdoppelte sich. Um ein Drittel erhöhte sich die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die unter Essstörungen leiden. Auch die lettische Suizidrate steigt wieder. Die Psychiater führen diese Entwicklungen auf die Isolation durch die verordneten Pandemiemaßnahmen und auf Sorgen um die wirtschaftliche Existenz zurück. Die psychischen Folgen der Pandemie gehen in die Sorgen von Krieg und Inflation über, noch ist kein Ende der Negativtrends in Sicht.


Nikita Bezborodovs, Leiter der psychiatrischen Abteilung, sagt, dass seit der Pandemie seine Angestellten vor allem Jugendliche therapieren: “Am meisten jugendliche Mädchen, die tendenziell für Stress anfälliger sind. Deshalb sind Abteilungen für Heranwachsende bis 18 Jahre besonders wichtig, ebenso die Eröffnung von Abteilungen für Patienten mit Essstörungen.” Er weist auf den Plan der Kinderklinik, im nächsten Jahr ein neues psychiatrisches Gesundheitszentrum für junge Patienten zu eröffnen.


In der Pandemiezeit stieg die Zahl der Behandlungstermine für Essstörungen von 486 im Jahr 2020 auf 880 im vergangenen Jahr. Klinikärztin Kristina Mackevica erklärt die Zunahme mit den isolierenden Pandemiemaßnahmen: “Der Mangel an sozialen Kontakten beinflusste in der Zeit der Pandemie die psychische Gesundheit vieler Heranwachsender, das führte zu neuen Anorexiefällen [=Magersucht]. Die Forschungsergebnisse bekunden, dass 68 Prozent der Anorexie-Patienten, die größtenteils Mädchen im jugendlichen Alter sind, Anzeichen des Perfektionismus aufweisen. 69 Prozent der Anorexiepatienten betreiben Sport oder sonstige Beschäftigungen, welche in der Pandemiezeit untersagt waren. Für Anorexie-Patienten ist der Perfektionismus kennzeichnend, eine geringes Selbstwertgefühl, eine schwankende Bewertung der eigenen Figur, die Neigung, sich selbst strikt zu kontrollieren. Um Genesung zu bewirken muss man die Natur der Anorexie und die sie begünstigenden Faktoren begreifen, daher ist sowohl die Hilfe von Spezialisten als auch die Unterstützung und das Verständnis des Umfelds erforderlich.”


Maris Taube, Vorsitzender des Verbandes lettischer Psychiater, sprach im Interview mit der Nachrichtenagentur LETA über eine weitere negative Entwicklung: Seit dem letzten Jahr erhöht sich die lettische Suizidrate wieder (veselam.lv). Nach Litauen rangiert Lettland in dieser traurigen Statistik auf den vorderen Plätzen der EU. Pro Jahr sterben etwa 300 Menschen, weil sie ihrem Leben selbst ein Ende bereiten, meistens als Folge einer Depression. Taube weist darauf hin, dass am Anfang der lettischen Unabhängigkeit, als das wirtschaftliche Chaos groß war, sich mehr als tausend Menschen jährlich das Leben nahmen. Die Zahl hat sich also bis zum Beginn der Pandemiekrise deutlich verringert, ist aber im internationalen Vergleich nach wie vor hoch. Taube erklärt den Rückgang durch bessere Lebensverhältnisse und bessere psychiatrische Versorgung, die gebührenfrei sei; Depressionen könne man heute besser erkennen und behandeln als vor 30 Jahren. Die Möglichkeiten, sich therapieren zu lassen, seien besser als jemals zuvor.


Trotz dieser positiven Entwicklung beobachtet der Psychiater, dass nur ein Bruchteil der von Depression Betroffenen eine psychiatrische Praxis aufsuchen, von etwa 120.000 unter Depression leidenden Einwohnern nur etwa 4000 bis 5000. Taube gibt für diesen beträchtlichen Unterschied zwischen Therapiebedürftigen und Therapierten mehrere Gründe an.


Zum überwiegenden Teil begehen Männer Suizid. Sie können die Einsicht, psychische Probleme zu haben, nicht mit ihrem Image vereinbaren, mit dem sie ihrem Umfeld Stärke und Gesundheit vermitteln wollen. Wegen gesellschaftlicher Vorurteile wollen die Betroffenen nicht als “Psychos” abqualifiziert werden und gestehen sich ihre Lage nicht ein. “Sie fühlen sich als Verlierer, die nicht imstande sind, ihre Arbeit zu verrichten und können es auch nicht, aber das steht in keinem Zusammenhang mit Faulheit oder Unvermögen. Die Menschen wissen selbst nicht, was ihnen geschieht und falls niemand daneben steht, der dazu ermuntert, Hilfe zu suchen, nimmt die Depression einen schweren Verlauf. Das Resultat ist, dass 85 Prozent der Suizide von Männern begangen werden,” sagt Taube.


Einen weiteren Grund, weshalb Depressive scheuen, ärztliche Hilfe zu suchen, sieht Taube in der Kostenbeteiligung für Medikamente. Der Staat zahlt nur 75 Prozent des Apothekenpreises, den Rest muss der Patient bezahlen. Das hält manche von einer Behandlung ab und jene, die einen Arzt aufsuchen, wählen lieber das günstigste als das geeignetste Medikament. Der Gesetzgeber ist für einen weiteren Missstand verantwortlich: Taube kritisiert die mangelnde Datengrundlage. Viele Patienten scheuten es, Angaben zu machen. Wer ins lettische Register für psychische Erkrankungen aufgenommen wird, darf beispielsweise keine Waffe tragen oder eine Fahrerlaubnis erwerben. Das diene zwar der gesellschaftlichen Sicherheit, halte aber auch Betroffene von der Möglichkeit einer Therapie ab.


Nach wie vor beobachtet der Experte nicht nur Vorbehalte gegenüber Betroffene, sondern auch gegenüber der Institution: “Man kann auch Vorurteile gegen die Psychiatrie als solche nicht ausschließen und hier muss man leider sagen, dass in der Gesellschaft schmerzhafte historische Erinnerungen an die sowjetische Zeit lebendig sind, als Psychiatrie mit politisch motivierter Gefangenschaft und repressiven Methoden verbunden war. Wir sind dabei nicht allein, ähnliche Vorurteile und schmerzhafte Erinnerungen, welche sich seit dem Mittelalter angesammelt haben, herrschen in der ganzen Welt vor,” meint Taube, ergänzt aber, dass sich in jüngster Zeit die Psychiatrie sehr gewandelt habe. Es gebe immer mehr Tageskliniken, wo die Patienten die Hilfe von Spezialisten in Anspruch nehmen und abends nach Hause gehen können. Taube lobt die Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium, doch er räumt ein, dass es noch viel zu tun gebe.


UB 




 
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