Lettland: Skepsis gegen Impfpflicht
21.07.2021
“Die Regierung gießt nur Öl ins Feuer”
Der Lutheraner Gustav von Bergmann führte in Livland das Impfen ein, Foto: Saite
Derzeit herrscht noch Covid-19-Ebbe in Europa, auch in Lettland. Reisende aus EU-Ländern müssen sich nach der Einreise nicht mehr in Quarantäne begeben; wie im letzten Sommer geht es in der Öffentlichkeit wieder lockerer zu. Doch das Europäische Zentrum für Prävention und Kontrolle von Krankheiten sagt bereits die nächste Welle mit der Delta-Mutation des Coronavirus` voraus (aerzteblatt.de). Darauf wollen Regierungen besser als im letzten Herbst vorbereitet sein, als die Inzidenzzahlen überraschend sprunghaft anstiegen. Falls ein genügend großer Anteil der Bevölkerung geimpft wäre, blieben die Intensivstationen vor Überfüllung verschont, so ist die allgemeine Hoffnung. In Lettland sind bislang kaum 650.000 Einwohner geimpft, nur ein Drittel der Bevölkerung (covid19.gov.lv). Die lettische Regierung will für staatliche Beschäftigte in verschiedenen Branchen ab 1. Oktober 2021 die Impfpflicht einführen. Vorgesetzte in privaten Betrieben sollen Angestellte in bestimmten Fällen entlassen dürfen, wenn sie sich der Spritze verweigern. Gegen die Pläne des lettischen Ministerkabinetts regt sich Widerstand. Juristen und Gewerkschafter lehnen die Impfpflicht ab.
Die Regierung plant, dass Angestellte in medizinischen Einrichtungen, in Pflegezentren und in Bildungsstätten ab 1. Oktober nur noch beschäftigt werden dürfen, wenn sie sich gegen Covid-19 impfen lassen. Innenministerin Marija Golubeva geht davon aus, dass auch Polizisten und Feuerwehrleute dazu verpflichtet werden (lsm.lv). Das Ministerkabinett hält seine Gesetzesinitiative für ein ausgewogenes Projekt, das sowohl höchstmögliche epidemiologische Sicherheit als auch persönliche Freiheitsrechte beachte. Doch im Interview mit der LSM-Journalistin Linda Spundina bezweifelt Edgars Timpa, ein Fachanwalt für Arbeitsrecht, die Rechtmäßigkeit des Vorhabens (lsm.lv). Er ist sich sicher, dass viele Beschäftigte juristischen Beistand suchen werden, wenn ihnen aufgrund ihrer Impfverweigerung die Entlassung droht. Das sei eine Angelegenheit für das Verfassungsgericht. Timpa meint, dass die Regierung die Verantwortung auf die Vorgesetzten abschiebe, die ab Oktober entscheiden müssten, ob sie Personalmangel oder Strafen der staatlichen Arbeitsaufsicht riskieren.
LSM-Journalistin Aija Kinca befragte Vorgesetzte von Pflegeeinrichtungen, was sie von der Impfpflicht halten. In manchen sozialen und medizinischen Einrichtungen ist weniger als die Hälfte des Personals geimpft. Die Verantwortlichen hoffen, in Gesprächen die Angestellten zu überzeugen und ihre Vorbehalte zu überwinden. Die Impfpflicht trifft nämlich Berufszweige, in denen ohnehin Personalmangel herrscht. Solvita Rudovica, die das sozialpflegerische Zentrum Mezciems leitet, will ihre Beschäftigten nicht verlieren: “Ich möchte wirklich nicht jemanden nur deshalb entlassen, weil er nicht geimpft ist. Jedenfalls gibt es die Möglichkeit, sich hier an Ort und Stelle impfen zu lassen und ich hoffe, dass es uns gelingt, dazu zu ermutigen.” (lsm.lv) Weniger Verständnis für Impfskeptiker hat Haralds Plaudis, Vorstandsmitglied der Rigaer Austrumu-Klinik. In seinem Krankenhaus sind zwar schon über 70 Prozent der Ärztinnen und Ärzte geimpft, aber kaum die Hälfte des Pflegepersonals: “Es sind nun die Steuerzahler, die das Impfen bezahlen, die Steuerzahler, die den Unternehmen Entschädigung zahlen und jenen die Tests bezahlen, die ungeimpft sind, was nach meinem Verständnis falsch ist. Und hier kann man nur an das Gewissen und den gesunden Verstand des Personals appellieren, denn mir ist nicht klar, wie eine Schwester oder irgendeine pflegerisch tätige Person sich zum Patienten begeben kann im Wissen, dass ihre Entscheidung den Behandlungsprozess beeinflussen kann. Die Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen - die kann Patienten töten. Nun, das ist absurd.”
Gewerkschafter der betroffenen Branchen sehen die Impfpflicht skeptisch. Valdis Keris, Vorsitzender der Gewerkschaft für Angestellte im Sozial- und Gesundheitswesen, bezweifelt, ob in Fällen, wo die Nebenwirkungen der Impfstoffe die Gesundheit gefährden, die Regierung sich tatsächlich regresspflichtig zeigt. “Die Regierung hat zwar gesagt, dass sie die Verantwortung für Impf-Nebenwirkungen übernehmen werde, aber sie hat keinen rechtlichen Mechanismus beschlossen, wie diese sich umsetzen lässt. Dies bekundet die Unentschlossenheit und Zaghaftigkeit der Regierung. Das, was ich mir wünsche, ist keine Steigerung des Konflikts, sondern gerade das Gegenteil: Die Regierung müsste rasch und konkret verkünden, dass sie bei Nebenwirkungen ohne Verzögerung alle notwendigen Ausgaben finanzieren wird. Das hat die Regierung nicht getan und gießt so nur Öl ins Feuer.” (lsm.lv)
Inga Vanaga, Vorsitzende der Gewerkschaft für Angestellte in Bildung und Wissenschaft, plädiert für freiwilliges Impfen und fürchtet, dass der Impfzwang den Personalmangel an den Schulen vergrößern wird: “Es ist traurig, dass die Regierung nicht einmal die Gründe für die Nichtimpfung anzuhören wünscht und keine Lösungen bietet, die in eine bessere Richtung weisen im Wissen darüber, wie sehr sich derzeit die Situation in diesem Berufszweig verschlechtert hat, im Wissen darüber, dass mehrere hundert aufgrund dieser Politik ihr Kündigungsschreiben einreichen werden.” Allerdings ist die Impfpflicht noch nicht Gesetz und noch stellt sich die Frage, ob die fragile Vier-Parteien-Koalition der Mitte-Rechts-Regierung dafür überhaupt die parlamentarische Mehrheit erlangen wird.
UB
Atpakaï