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Lettland und elf weitere Staaten fordern EU-Finanzierung für ihre Grenzzäune
13.10.2021


Im "Krieg gegen Migranten" wird die Festung Europa ausgebaut

Der Grenzzaun Ungarns an der Grenze zu Serbien wurde osteuropäischen Ländern zum Vorbild, Foto: Bőr Benedek, CC BY 2.0, Link

Die lettische Regierung hat beschlossen, an der Grenze zu Belarus provisorisch einen 35 Kilometer langen Stacheldrahtzaun zu errichten. Sie plant, ihn später auf 134 Kilometer zu erweitern (lsm.lv). Die Arbeiten begannen am 6. Oktober 2021 und sollen bis Mitte November beendet werden. Dies ist die Reaktion auf sogenannte "illegale" Grenzübertritte, über die lettische Medien seit diesem Sommer berichten. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko hatte zuvor angekündigt, Flüchtlinge und Migranten nicht mehr daran zu hindern, EU-Gebiet zu betreten (LP: hier). Lettische Grenzbeamte halten nun jene auf, die je nach politischer Gesinnung als Geflüchtete oder Migranten bezeichnet werden. Einige Familien aus dem Irak mussten wochenlang im Niemandsland verharren, weil belarussische Grenzer den Rückweg versperrten (LP: hier). Der verkündete Ausnahmezustand für die lettische Grenzregion zu Belarus nimmt Asylsuchenden das international anerkannte Grundrecht, einen Antrag zu stellen. Nun soll der Zaunbau Menschen aus weniger privilegierten Teilen der Welt den Zutritt zur EU gänzlich versperren. Bislang beziffert das lettische Innenministerium für den ersten Bauabschnitt Kosten von etwa 3,8 Millionen Euro. Kabinettsmitglied Marija Golubeva unterschrieb in dieser Angelegenheit am 7. Oktober 2021 mit elf weiteren Innenministern einen Brief an die EU-Kommission, der in Lettland über Twitter verbreitet wurde. Die Unterzeichner fordern, dass die EU die Zäune an ihren Außengrenzen finanziert.


Im Brief an die zuständigen EU-Kommissionsmitglieder Margaritis Schina und Ilva Johansson erinnern die Innenminister an Ursula von der Leyens Aussage, dass der Staatenbund sich einer "Hybridattacke" ausgesetzt sehe, deren Ziel die Destabilisierung sei. Die Unterzeichner fordern eine "starke Antwort, um der Instrumentalisierung illegaler Migration und anderer Hybrid-Bedrohungen entgegenzuwirken." Dazu gehört ihrer Auffassung nach, dass Stachel-und Maschendraht durch EU-Fonds finanziert wird: "Das Schengener Abkommen sieht keine physischen Barrieren vor als Maßnahme, die EU-Außengrenzen zu schützen. Physische Barrieren scheinen eine wirksame Schutzmaßnahme darzustellen, das dem Interesse der gesamten EU entspricht, nicht nur der Länder des ersten Zutritts. Diese berechtigte Maßnahme sollte zusätzlich und angemessen aus dem EU-Budget als vorrangiges Vorhaben finanziert werden." Zu den Unterzeichnerstaaten gehören neben Lettland die baltischen Nachbarn Litauen und Estland sowie Österreich, Bulgarien, Zypern, Tschechien, Dänemark, Griechenland, Ungarn, Polen und die Slowakei.  


Die Reaktion in Brüssel ist verhalten. 2017 hatte die damalige EU-Kommission sich geweigert, den umstrittenen Zaunbau der ungarischen Regierung mitzufinanzieren (tagesschau.de). Das Schweizer Fernsehen SRF meldete am Tag der Briefübergabe, dass EU-Innenkommissarin Johanssen diese Finanzierungsforderung für keine gute Idee halte (srf.ch). Die Schweizer zitierten zudem den Luxemburger Außen- und Migrationsminister Jean Asselborn, der "absolut nicht" dafür sei, Mauern an den Außengrenzen zu errichten und sich dagegen aussprach, Migranten und Migrantinnen in Internierungslagern unterzubringen. 


Lettische Journalisten berichten täglich über einige Dutzend "illegale" Grenzgänger aus dem Irak, Afghanistan oder anderen islamischen Ländern, zudem über die Situation an den Grenzen Litauens und Polens, die Nachbarländer, die ebenfalls als Opfer von Lukaschenkos "Hybridkrieg" betrachtet werden. Doch darüber, dass jüngst an der polnischen Grenze vier Flüchtlinge starben (taz.de) und darüber, dass ein internationales Journalistenteam an der kroatischen Grenze staatlich bezahlte Schläger in blauen Uniformen filmte, wie sie Menschen von der EU-Außengrenze wegknüppelten (wdr.de), darüber informieren Lettlands Medien nicht. 


EU-Politiker verlautbaren, dass gegen ihre Länder ein Hybridkrieg angezettelt werde. Doch die Angelegenheit ließe sich auch umgekehrt als Krieg der wohlhabenden Europäer gegen Migranten darstellen. Jean‐Jacques Rousseau hielt den Zaunbau bekanntlich für den Beginn der bürgerlichen Gesellschaft und damit für den Beginn von Verbrechen, Kriegen und Morden. Der Philosoph fragte sich, "wie viel Elend und Schrecken" der Menschheit erspart geblieben wäre, wenn jemand die Pfähle wieder ausgerissen hätte. Schließlich gehörten die Früchte allen und die Erde niemanden. Die italienische Philosophin Donatella Di Cesare hat ähnliche Anschauungen und fragt sich, ob Nationalstaaten überhaupt ein Recht haben, Migranten und Geflüchtete zurückzuweisen. Dieser vermeintliche Anspruch gehe auf den antiken Stadtstaat Athen zurück, der die Erstbewohner als autochthone, also "einheimische" Bürger privilegierte; daraus sei die Blut-und-Boden-Ideologie entstanden: „Ich habe meine Wurzeln hier, meine Eltern sind hier geboren, dieser Ort gehört mir, diese Erde gehört mir – und ich gehöre dieser Erde,“ erläuterte sie im Interview mit Dlf-Kultur (dlf-kultur). Das sei eine wesentliche Ursache dafür, dass sich Europa martialisch gegen Einwanderung abschotte: "Was heutzutage geschieht, ist im Grunde ein Krieg der Nationalstaaten, ein Krieg Europas gegen die Migranten.“

UB 




 
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