Lettlands umstrittene Denkmal-Politik verursacht Streit im In- und Ausland
02.06.2022
Protest gegen den geplanten Abriss des sowjetischen Siegesdenkmals ist untersagt, in Belgien steht die lettische Erinnerungskultur zur Debatte
Das Gelände des ehemaligen Gefangenenlagers in Zedelgem-Vloethemveld, Foto: Marc Ryckaert, Eigenes Werk CC BY-SA 4.0, Link
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat Auswirkungen auf die innenpolitischen Konflikte Lettlands. Die Saeima hat beschlossen, das sowjetische Denkmal in Riga, das dem Sieg über Nazi-Deutschland gewidmet ist, abzureißen. Damit missachtet Lettland einen mit Russland geschlossenen Vertrag, der zum Erhalt des Monuments verpflichtet. Lettische Nationalkonservative werten das Bauwerk als Bekenntnis zum russischen Militarismus. Das Beton-Areal aus den 80er Jahren ist das wichtigste Identifikationsobjekt der russischsprachigen Minderheit. Trotz Verbots versammelten sich Demonstranten, um gegen den Abriss zu protestieren. Gleichzeitig beklagt der lettische Außenminister das belgische Vorhaben, das Bienenstock-Denkmal von Zedelgem zu entfernen, das an lettische SS-Legionäre erinnert.
Mehrere hundert Demonstranten trafen sich am 9. und 10. Mai 2022 am Denkmal in Pardaugava, das den sowjetischen Befreiern Lettlands und Rigas von den faschistischen Angreifern gewidmet ist, obwohl die Stadt Riga Versammlungen untersagt hatte. Den anwesenden Polizisten wurde aus Regierungskreisen vorgeworfen, die Demonstration nicht verhindert zu haben; auf Druck ihrer nationalkonservativen Regierungspartner musste Innenministerin Marija Golubeva zurücktreten (LP: hier). Die Polizei ermittelt gegen 23 Personen, leitete gegen drei Strafverfahren ein und untersucht 20 Ordnungswidrigkeiten. Den Betroffenen wird vorgeworfen, Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Krieg zu rechtfertigen. Gegen einen Jugendlichen wird ermittelt, weil er eine russische Fahne schwenkte.
Eine Demonstrantin, die von einem TV-Team gefilmt wurde, erregte mit provozierenden Aussagen öffentliche Aufmerksamkeit, als sie in einem Satz die Polizisten als “Krüppel”, “Scheusale” und “Faschisten” diffamierte. “Ich kann in diesem Land nicht leben, denn sie sind Faschisten, Scheusale, Ungeheuer! Sie verstehen nicht, was Wahrheit und was Lüge ist!” erboste sie sich weiter (jauns.lv). Die Frau musste zwei Tage in Arrest verbringen. Inzwischen ist bekannt, dass sie als Lehrerin in einer Rigaer Grundschule arbeitete. Ob sie von ihrer Direktorin entlassen wurde oder vor der Kundgebung schon selbst gekündigt hatte, steht derzeit noch nicht fest. Die Demonstrantin hatte an der Pädagogischen Universität in der russischen Stadt Pskov studiert. Der Jauns-Artikel spekuliert über mögliche Kontakte zum russischen Geheimdienst. Lettlands Union der Russen, eine Kleinpartei, die nicht in der Saeima vertreten ist, will der Russischsprachigen rechtlich beistehen.
Der Rigaer Stadtrat, in dem seit zwei Jahren lettische Parteien die Mehrheit haben und den Bürgermeister stellen, verbot eine Protestveranstaltung gegen den Abriss, den die Union der Russen für den 28. Mai 2022 geplant hatte (lsm.lv). Die Aktion gefährde die demokratische Ordnung und die öffentliche Sicherheit. Dennoch versammelten sich etwa ein Dutzend Demonstranten, die von einem großen Polizeiaufgebot überwacht wurden. Zwei Frauen wurden festgenommen, die sich weigerten, ihre Pässe vorzuzeigen, ansonsten verlief die Mini-Kundgebung friedlich.
Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine betrachten nationalkonservative Politiker die 79 Meter hohe, fünfgliedrige und mit bronzenen Sternen versehene Betonsäule als fällig für den Abriss. „In der Gesellschaft ist die Frage nach dem sowjetischen Regime und seinen repressiven Institutionen sehr aktuell geworden - auch nach der Armee - nach rühmenden Denkmälern und Monumenten, die sich weiterhin mitten im öffentlichen Raum Lettlands befinden. Mit der Aussetzung des Paragraphen 13 zum sozialen Schutz von Militärpensionären der Russischen Föderation und ihrer Familien werden alle rechtlichen Hindernisse und der Schutz solcher Denkmäler aufgehoben, unter ihnen die bestehende Säule der Okkupation auf dem Siegesplatz in Pardaugava, um deren Demontage oder Verlagerung auf den Weg zu bringen,“ meinte Rihards Kols, Abgeordneter der Nationalen Allianz nach einer Sitzung der Saeima-Kommission für Auswärtiges am 6. Mai 2022. (nacionalaapvieniba.lv)
Janis Urbanovics, Vorsitzender der Partei Saskana, die die meisten Saeima-Abgeordneten stellt, aber als „prorussische“ Fraktion in der Opposition isoliert bleibt, kommentierte im Interview mit TV3 die Vorgänge (jauns.lv). Saskana hatte am 24. Februar 2022 den russischen Angriff verurteilt (LP: hier). Seine Partei wiegele die Bevölkerung nicht dazu auf, gegen die Entfernung des Siegesdenkmals zu protestieren, weil dies strafbar sei. Urbanovics ist der Auffassung, dass im Mittelpunkt des Konflikts nicht das Denkmal selbst stehe, sondern es sich um den Versuch handele, jene zu beschuldigen und zu erniedrigen, für die es von Belang sei. Er habe in den letzten Wochen in den Debatten viel Hass vernommen. Ein solcher Abriss sollte erst nach ausführlichen Diskussionen in der Gesellschaft erwogen werden, in ruhigen Zeiten. Solche Maßnahmen sollten in einem größeren Zusammenhang erörtert werden, ob sie Lettland zugute kommen oder schaden. Saskana wolle Russischsprachige davon überzeugen, Lettland als ihr Heimatland anzunehmen. „Das wird nicht leicht sein angesichts der xenophoben Ausfälle der Koalition, aber wir sind der Ansicht, dass das wichtig ist.“
Während lettische Politiker mit der Beseitigung des Denkmals der antifaschistischen Erinnerungskultur - die von sowjetischer bzw. russischer Seite zu Propagandazwecken missbraucht wurde bzw. wird - den wichtigsten Erinnerungsort nehmen, steht die eigene antibolschewistische Sicht der Dinge in Belgien zur Debatte. Der lettische Außenminister Edgars Rinkevics protestierte zum wiederholten Mal gegen die Entscheidung der flandrischen Gemeinde Zedelgem, die Skulptur „Bienenstock für die Freiheit“ zu entfernen. 2018 ließ Kristaps Gulbis sein Kunstwerk auf einem Platz der Gemeinde aufstellen, der in „Brivibaplein“ (Freiheitsplatz) umbenannt wurde. Gulbis hält Bienenvölker für friedlich, aber sie seien jederzeit bereit, ihre Freiheit zu verteidigen. Diese Insekten symbolisierten seiner Ansicht nach den antibolschewistischen Kampf der 12.000 lettischen Legionäre, die im Dienst der SS gegen die Rote Armee kämpften und nach Kriegsende in einem Lager bei Zedelgem bis zu zwei Jahre in alliierter Gefangenschaft verbrachten. Das Denkmal wurde zur Hälfte von der Gemeinde Zedelgem finanziert, den Rest brachte das lettische Okkupationsmuseum auf, das Spenden gesammelt hatte.
Belgische Sozialdemokraten protestieren gegen den Bienenstock, betrachten ihn als „Kunstwerk getarntes Denkmal für Hass” (LP: hier). Wegen der öffentlichen Empörung berief die Gemeinde im November eine internationale Historikerkommission, die empfahl, das umstrittene Denkmal zu entfernen. (Didzis Berzins, der als lettischer Experte teilnahm, sieht sich nun der Kritik im eigenen Lande ausgesetzt). Andris Razans, lettischer Botschafter in Belgien, übergab der belgischen Regierung in dieser Angelegenheit am 30. Mai 2022 eine Protestnote. “Für Lettland ist der von der Gemeinde Zedelgem verkündete Beschluss, das Denkmal zu entfernen und sich bei dieser Maßnahme nicht mit dem Lettischen Okkupationsmuseum abzustimmen, nicht hinnehmbar.” (lsm.lv) Lettland verlange zum wiederholten Mal präzise Informationen von Belgien über das weitere Schicksal des Denkmals. Das Ergebnis der Historikerkommission behagt dem lettischen Außenministerium nicht. Es fordert von den Belgiern, zur Denkmalsfrage eine neue Konferenz auszurichten, zu der baltische, polnische und westeuropäische Historiker geladen werden sollen. Offenbar wird von ihnen erwartet, dass sie den Verbleib des Denkmals an Ort und Stelle empfehlen.
Rinkevics hatte bereits vier Tage zuvor an die flandrische Regionalregierung geschrieben und vermutet, dass die Gemeinde Zedelgem örtlicher und internationaler Desinformation ausgesetzt sei, als Folge der Desinformationskampagnen undemokratischer Regime, die sich gegen Europas demokratische Nationen richteten, um bösartig geopolitische Ziele zu verfolgen. Zudem könne man die Diskussion über das Denkmal nicht führen, ohne den von Russland begonnenen Krieg in der Ukraine und die bereits zuvor aktiv gegen das Denkmal gerichtete russische Propaganda in Betracht zu ziehen.
Die Kritik an der lettischen Haltung, SS-Legionäre als Freiheitskämpfer und nicht als Erfüllungsgehilfen von NS-Kriegszielen zu betrachten, basiert nicht auf russischer Desinformation, wie lettische Politiker behaupten. Sie wird auch von westlicher und jüdischer Seite geteilt. Jean-Pierre Stroobants, der Brüsseler Le-Monde-Korrespondent, stellt die lettische Erinnerungskultur in Frage: “Ohne Gerichtsverfahren nach ein paar Monaten Arrest entlassen, entschieden sich alle [lettischen SS-Legionäre], im Westen zu leben, sich nun als Opponenten des Regimes darstellend, das ihr Land übernommen hatte. Und alle von ihnen behaupteten, ohne dass es groß überprüft wurde, dass sie von Nazi-Deutschland, das Lettland 1941 überfallen hatte, zwangsrekrutiert worden seien. Niemand von ihnen wurde wegen Kriegsverbrechen verurteilt.” (belgians-remember-them.eu) Der Artikel weist auf zahlreiche Protestkundgebungen, die gegen das Denkmal stattgefunden haben. Das Simon-Wiesenthal-Center in Jerusalem betrachte den Bienenstock als “unerträglich” und als eine Beleidigung für die Opfer des Hitler-Regimes und das Denkmal ermutige zum Revisionismus. Letten hätten die Möglichkeit gehabt, statt in der Legion zu kämpfen, Zwangsarbeit zu verrichten oder vor der Einberufung zu fliehen. Schließlich erinnerte das Zentrum an den Massenmord, der zwei Jahre vor Bildung der lettischen SS-Legion von den deutschen Besatzern mit lettischer Beteiligung an den Juden verübt worden war.
Inzwischen melden Medien, dass die Gemeinde Zedelgem den Bienenstock entfernen ließ.
Udo Bongartz
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