Nach dem Brexit beantragen nur wenige Lettinnen und Letten ein britisches Arbeitsvisum
02.10.2021
Visagebühren und Auflagen schrecken ab
Britische Teezeit, Foto: Frankie Leon from Belgium CC BY 2.0, Link
Vor dem Brexit gehörte Großbritannien zu den bevorzugten Emigrationszielen von Lettinnen und Letten, die in der Heimat keine Arbeit bzw. keine angemessen bezahlte Arbeit fanden. Ein Erntehelferjob auf der Britischen Insel war lukrativer als das Lehrergehalt einer lettischen Schule. Doch inzwischen hat die Regierung von Boris Johnson ausländischen Arbeitssuchenden manche Bürde auferlegt, die das Land für Immigranten aus der EU unattraktiv macht. Der TV3-Journalist Uldis Abolins interviewte dazu Paul Brummell, den britischen Botschafter in Riga (skaties.lv).
Im Jahr 2018 emigrierten etwa 4.200 lettische Arbeitssuchende als EU-Bürger nach Großbritannien, das sich damals noch in der EU befand. Im Jahr 2019 waren es schon deutlich weniger, nur 2.900 (csb.gov.lv). Nicht nur die britischen Erschwernisse, auch höhrere Löhne im eigenen Land halten Letten von der Arbeitsimmigration ab. Zwar ist der lettische Migrationssaldo immer noch negativ, aber das Minus wird von Jahr zu Jahr geringer. Vor dem Brexit war das Königreich allerdings das beliebteste Auswandererland, doch das ändert sich jetzt. Vom Jahresanfang bis zum 1. September 2021 haben nur 470 Lettinnen und Letten ein britisches Arbeitsvisum beantragt, davon wurden 147 abgelehnt. Lediglich 13 Spezialisten und 95 Saisonarbeiter erhielten eine Arbeitserlaubnis, 216 Antragssteller erhielten es für geschäftliche Kontakte.
Im Interview weist Brummell darauf hin, dass britische Behörden Arbeitsvisa nur nach dem volkswirtschaftlichen Bedarf seines Landes ausstellen. Die Anstragsteller müssen Englischkenntnisse auf einem gewissen Niveau nachweisen. Das Jahresgehalt, das sie mit einem britischen Unternehmen vereinbart haben, darf nicht weniger als 25.600 Pfund betragen. Aber in Branchen mit fehlenden Arbeitskräften wie in Krankenhäusern oder in der Pflege “darf” man als Immigrant auch weniger verdienen. Das gilt auch für einige Branchen der Lebensmittelindustrie, wo ebenfalls Arbeitskräfte fehlen. Gesucht und bevorzugt werden aber im internationalen Brain-Drain-Gerangel vor allem Ingenieure und IT-Spezialisten. Doch sie dürfen nur in Unternehmen arbeiten, die beim britischen Innenministerium für das Visa-Programm registriert sind. Nun, wo EU-Bürger als Ausländer behandelt werden, ist es nicht mehr erlaubt, sich ins Flugzeug zu setzen, um vor Ort in London oder Manchester auf Jobsuche zu gehen. Wer ein Visum von der britischen Botschaft in Riga möchte, muss bereits einen Arbeitsvertrag vorlegen. Die Bewerber müssen also von Lettland aus mit britischen Vorgesetzten einen Vertrag aushandeln.
Zudem schrecken die Visagebühren ab. Laut Brummell kostet eine dreijährige Arbeits- und Aufenthalterlaubnis 610 Pfund. Hinzu kommen für jedes Jahr Kosten von 624 Pfund für das britische Gesundheitssystem. Und das alles muss im voraus bezahlt werden. Gleichberechtigte Lohnabhängige sind visapflichtige Migranten nicht mehr, denn die üblichen Sozialleistungen, auf die ein britischer Bürger Anspruch hat, stehen ihnen nicht zu.
Derzeit ist Großbritannien wegen fehlender Lkw-Fahrer in den Schlagzeilen, dazu präsentiert Brummell das Angebot seiner Regierung: “Es ist derzeit möglich, ein Kurzzeitvisum zu bekommen: 5.000 Lkw-Fahrer, 5.500 Arbeiter auf den Geflügelfarmen, in der Geflügelverarbeitung. Die Visa sind für drei Monate gültig, bis Weihnachten. Doch man muss nicht annehmen, dass Großbritannien geschlossen ist. Es gibt eine Reihe geringqualifizierter Tätigkeiten, für die man kurzfristige Saisonvisa erhalten kann, zum Beispiel beim Ernten, Bearbeiten und Verpacken von Obst und Gemüse.”
Brummell erklärt als Johnsons Abgesandter den Arbeitskräftemangel nicht mit dem Brexit, den der britische Premier mit aller Macht durchgesetzt hat, sondern mit der Situation der britischen Wirtschaft, die nach der Corona-Krise wieder boome.
Das Webportal jauns.lv interviewte Anfang August den lettischen Lkw-Fahrer Zigurts Susters, der bereits seit 2006 auf der Insel lebt (jauns.lv). Im Gegensatz zum Botschafter sieht er durchaus einen Zusammenhang des Arbeitskräftemangels mit dem Brexit, aber auch mit der Pandemie-Krise, weil positiv getestete Fahrer zwei Wochen in Quarantäne verbringen mussten. Zwar weist Susters darauf hin, dass der Mangel an Lkw-Fahrern in Großbritannien ein langjähriges Problem darstelle, doch Brexit und Pandemie haben die Lage verschärft. Jetzt sieht man leere Regale in den Lebensmittelgeschäften und die Regierung erwägt, Fahrer der Armee einzusetzen. Susters hat gehört, dass derzeit 90.000 Fahrer fehlten.
Für Susters gilt das Visaregime nicht, weil er schon seit langem in Großbritannien lebt und die Rechte eines EU-Bürgers beibehält. Für ihn sind die Zeiten günstig, er kann sich nun nach Belieben eine andere Spedition suchen und die Firmen erhöhen ihren Fahrern die Gehälter. 139.550 Lettinnen und Letten, die bis zum 31. Dezember 2020 britische Einwohner wurden, haben ein beständiges Aufenthaltsrecht. Angehörige und Freunde, die sie aus der Heimat besuchen, müssen ab 1. Oktober 2021 einen Reisepass vorzeigen, ein Touristenvisum benötigen sie immerhin noch nicht.
UB
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