Latviešu Centrs Minsterē

   

Neue Webseite zur lettischen Industriegeschichte
29.04.2023


Erinnerungen an einen ehemaligen Industriestandort

Das RAF-Modell “Latvija”, Foto: W.Grabar, CC BY-SA 2.0, Saite

“Wir sind recht gut vertraut mit unserem architektonischen, künstlerischen, folkloristischen und ethnographischen Erbe, aber unser industrielles Erbe hat sehr viel weniger öffentliche Aufmerksamkeit erhalten. Alte Industriegebäude, Maschinen und Ausstattung, historische Industrieblocks, Schmieden und Brennereien, Hafen- und Hydraulik-Bauwerke, Leuchttürme, Pumpstationen und Wassertürme, Mühlen, Konstruktionen, Druckereien: Sie alle sind ebenfalls von großem nationalen Wert, deren Bedeutung nach und nach verstanden wird, und einige von ihnen werden neuen Bedürfnissen angepasst, einem neuen Lebenstempo, sie erhalten ein neues Leben,” so formulierte der inzwischen gestorbene Historiker Janis Stradins recht optimistisch die Bedeutung der lettischen Industriegeschichte in einer Rede, die er 2002 anlässlich einer Konferenz zum Thema im Schwarzhäupterhaus hielt. Sie findet sich - auch in englischer Sprache - als Erläuterung des Projekts “Industrielles Erbe”, Industrialais mantojums (lndb.lv), auf der entsprechenden Webseite, die seit einem Jahr Materialien sammelt und publiziert. Riga, Liepaja und Daugavpils gehörten einst zu den wenigen Städten des Zarenreichs, die sich frühzeitig industrialisierten und auch in sowjetischer Zeit wichtige Standorte blieben. Die Umstellung von sozialistischer Planwirtschaft auf weitgehend deregulierte Marktwirtschaft, die diese Fabriken der kapitalkräftigeren Konkurrenz westlicher Konzerne aussetzte, bedeutete für viele Traditionsbetriebe das Aus, nur wenige erhielten ein neues Leben und konnten sich behaupten.


“Industrielles Erbe” (Rupniecibas mantojums) ist ein Projekt der Nationalbibliothek in Zusammenarbeit mit anderen Museen. Auf der Webseite sind inzwischen zu mehr als 100 Fabrikanlagen Fotos, Dokumente und Erläuterungen zur Firmengeschichte in lettischer und englischer Sprache zu finden (Ins Englische wurden aber meistens nur die Teaser übersetzt). Die Macher der Webseite arbeiten weiter. Arturs Zogla, der den digitalen Auftritt der Nationalbibliothek leitet, appellierte im Interview mit LSM an die Nutzer, seinen Mitarbeitern Informationen zur Verfügung zu stellen. Das Team interessiert sich besonders für Erzählungen von Arbeiterinnen und Arbeitern, die einst in den alten Werkshallen tätig waren. Wer solche Informationen hat, kann sich an die E-Mail-Adresse eva.auseja@lnb.lv wenden.


Stradins erinnerte daran, dass die technische Entwicklung, die schließlich Fabrikschlote und Werkshallen hervorbrachte, bis in die Zeit der Hanse und sogar der baltischen Stämme zurückreicht, doch der bedeutendste Anteil an der Entwicklung, die Riga stark vergrößerte und architektonisch prägte, hat die Epoche der Industrialisierung, die im Baltikum in der Mitte des 19. Jahrhunderts begann: “Rigas Modernisierung begann vor 150 Jahren, in den 1850ern und 60ern und setzte sich in immer schnellerem Tempo bis 1914 fort, dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Die Stadt der mittelalterlichen Festung und Segelschiffe transformierte sich in eine moderne europäische Stadt des Handels und der Industrie, einem Hafen mit großer Bedeutung für das russische Imperium.”


Nicht alle Firmengeschichten, die auf der Webseite zu finden sind, gehen bis auf die Zeit der Zarenherrschaft oder der ersten lettischen Unabhängigkeit zurück. In sowjetischer Zeit wurden staatseigene Betriebe gegründet. Eines der bekanntesten lettischen Produkte aus sowjetischer Zeit war der Kleinbus RAF, der in alle Teile der Sowjetunion geliefert wurde und der nach lettischen Erzählungen für Verwirrung an bundesdeutschen Grenzen sorgte. RAF bedeutet “Rigas autobusa fabrika”. Nach dem 2. Weltkrieg mangelte es in der Sowjetunion an Fahrzeugen, insbesondere für den öffentlichen Transport. In Riga wurden zunächst Werkshallen für Reparaturen eingerichtet. In den 50er Jahren begann man, eigene Kleinbusmodelle auf der Basis bestehender Autos und LKW zu entwickeln, 1955 wurde RAF gegründet. Der Kleinbus “Festivals”, der sich den VW-Transporter zum Vorbild nahm, ging 1958 in die Serienproduktion, wurde aber bald schon vom Modell “Latvija” abgelöst. Trotz des Firmennamens wechselte der Kleinbushersteller Mitte der 70er Jahre den Standort, weil er größere Produktionsflächen benötigte. Seit 1975 kamen die RAF-Busse aus Jelgava. Auch RAF überstand die Umstellung auf den Kapitalismus nicht, 1997 wurde die Produktion eingestellt. Bezeichnenderweise war einer der letzten Aufträge die Lieferung von Leichenwagen mit vier “Liegeplätzen” für die Stadt Moskau. Das unrühmliche Ende des Unternehmens war mit Veruntreuung öffentlicher Gelder und Steuerbetrug verbunden.


Udo Bongartz 




 
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