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Rigas Zirkus: Die Stätte waghalsiger Veranstaltungen, einst und in Zukunft, Teil 3
25.06.2022


Die andere Welt im Wöhrmannpark

Zirkus Riga, Foto: Sinikka Halme, Own work CC BY-SA 4.0, Link

Riga entwickelte sich vor dem Ersten Weltkrieg zu einer der wenigen Industriestädte des russischen Reichs. Die Behörden registrierten im Jahr 1800, als Riga noch eine beschauliche Hafen- und Handelsstadt gewesen war, etwa 29.500 Einwohner, im Jahr 1913, als die Schornsteine rauchten und elektrische Straßenbahnen sich durch den Verkehr schoben, 472.068. Verelendete lettische Landarbeiter fanden als Facharbeiter oder Gewerbetreibende in der Stadt ein besseres Auskommen. Aber auch in Rigas Fabrikhallen war die Lohnarbeit hart und monoton; die Mietshäuser in den Arbeitervierteln füllten sich mit Familien, die auf einem Zimmer hausen mussten. Die knappe Freizeit sollte Ausgleich und Ablenkung bieten, eine Vorstellung von dem liefern, wie vergnüglich das Leben sein könnte. Der Zirkus Salamonski war zu seiner Gründungszeit mit 1700 Plätzen die größte überdachte Vergnügungsstätte Rigas. Hier sah man nicht nur Darbietungen von Artisten und Clowns. Auch Chöre und Orchester unterhielten unter der Zirkuskuppel; 1895 sahen Rigenser bei Salamonski erstmals, wie ein Kinematograph bewegliche Bilder auf eine Leinwand warf. 1913 starb der quirlige Pferdeartist und Zirkusunternehmer Albert Salamonski, seine Ehefrau Liene Schwarz übernahm die Leitung. Die Manege blieb bis zur sowjetischen Okkupation in Privatbesitz. In den ersten Jahrzehnten beherrschten Artisten aus dem Ausland das Programm, doch Letten hatten sie beobachtet und entwickelten bald ihre eigene Artistik.  


Trofims Meiers, der als Miforts Reiems die Zirkusbühne eroberte, wurde 1875 als Sohn eines Metzgers im Rigaer Arbeiterviertel Griezinkalns geboren. Ab dem zwölften Lebensjahr musste er Schweinehälften auf seine Schultern packen, um sie der Kundschaft zu bringen. Manche Kunden befanden sich in der Nähe des Wöhrmannparks, wo er auf einmal eigenartige Holzbuden aufgestellt sah. Girts Zenitis beschreibt, welchen Eindruck diese neuartige Welt auf ihn machte: “Puppentheater und Flohzirkus, Schweizer Zirkus, Ringerwettbewerb, Jongleure. Fast alle hatten italienische Familiennamen. Gott weiß, wer sie wirklich waren. Nur Lettisch sprach niemand. Trofims Meiers versuchte sich mit dem einen oder anderen zu verständigen, aber ohne Erfolg. Er wurde fortgescheucht.” (periodika.lv)


Trofims Meiers übte auf den Sandhügeln seines Viertels, was er im Wöhrmannpark beobachtet hatte. Er jonglierte mit Bällen in den Händen, balancierte Stangen, lief über Seile; für seine Übungen benötigte er nicht nur Geschick, sondern auch die Kraft eines Ringkämpfers. Dann hörte er, dass es in Berlin eine Schule für Zirkusartisten gäbe; er machte sich nach Deutschland auf, um festzustellen, dass man ihn getäuscht hatte. Meiers fand Arbeit in einer Wurstfabrik und trainierte seinen Körper in einer Athletenschule. Als er nach vier Jahren aus Berlin nach Riga zurückkam, tat er sich mit fünf anderen Männern zusammen. Sie präsentierten im Alexanderpark vor den Damen ihre Muskelkraft. Doch zum Lebensunterhalt reichte das nicht. Schließlich kam Meiers auf die Idee, mit einer schweren Kugel über ein Seil zu balancieren; es war so hoch aufgespannt, dass er sich bei einem Sturz den Hals gebrochen hätte. Diese Waghalsigkeit überzeugte und er erhielt einen Vertrag bei Salamonski; so trat er 1899 als erste Lette in der Rigaer Manege auf. Das Plakat verkündete in deutscher Sprache - ohne Nominativ-S: “Mifort Reiem - Drahtseiler und Gladiator!”

Nachdem Lettland 1918 Republik wurde, sollte man auf den Bühnen zuweilen die Nationalsprache vernehmen. Der Zirkus Salamonski musste fortan die erste Nummer im Programm auf Lettisch präsentieren; Pferde und Löwen kamen dabei nicht in Frage; sie verstanden ja nur Deutsch. Das war die Chance für das lettische Clownpaar Ripsis und Pipsis. In der Presse wurden sie auch als “Satiriker” bezeichnet, ihre Nummern mit bunt bemaltem Gesicht in zu großer Kleidung und riesigen Schuhen waren keine harmlosen Albernheiten, sondern beinhalteten gesellschaftskritischen Spott über die Absurdität des Alltags und über bürgerliche Herrschaften. Doch nachdem Karlis Ulmanis 1934 geputscht hatte, war es mit der Meinungsfreiheit vorbei. Girts Zenitis schrieb 1975 in einer sowjetischen Zeitschrift: “Ripsis und Pipsis erlaubten sich in lettischer Sprache bis zum faschistischen Umsturz scharfe, die Bourgeoisie kritisierende Witze! Doch die Regierungsbehörden warnten die populären Satiriker: Macht ihr uns lächerlich, dann werdet ihr den Rigaer Zirkus nicht mehr mit eigenen Augen sehen. Marsch auf die Bühne! Das schüchterte Ripsis und Pipsis ein. Die Aussicht, beim Rigaer Zirkus außen vor zu bleiben, wo beide Satiriker soviel Applaus gehört hatten, erschien inakzeptabel. Ripsis hörte auf und Pipsis (mit richtigem Namen Indrikis Straupe) verbrachte die Tage im Alkoholdunst. Er starb bald. Der 1897 geborene Ripsis (mit richtigem Namen Andrejs Upenieks) lebte lange. Er starb am 15. März 1968. Am Lebensende schrieb Ripsis Memoiren, doch sie waren derart zusammengelogen, dass ihm selbst nicht mehr klar war, was Wahrheit und was ausgedacht war. Ripsis war das Wohlergehen in der bourgeoisen Zirkussaison teuer zu stehen gekommen.” Dzenitis behauptet, dass Ripsis in der Ulmanis-Zeit seine Zirkuskollegen an die Polizei verraten habe (periodika.lv). Auch Satire kann waghalsig sein.


In den 20er und 30er Jahren wurde der Rigaer Zirkus zum internationalen Zentrum eines Wettkampfs, der Andrejs Johansons in eine Begeisterung versetzte, die er sonst nur noch beim Europa-Cup-Finale zwischen Benfica Lissabon und Real Madrid im Jahr 1962 empfunden haben will. Was Johansons derart bewegte, waren die Ringkämpfe im Rigaer Zirkus, die er in seiner Kindheit besucht hatte. Trofims Meiers hatte noch die erste lettische Ringertruppe gegründet. Angeblich nahmen lettische Soldaten im Ersten Weltkrieg, während sie in den Tirel-Sümpfen kämpften, zwischendurch an den Ringer-Wettkämpfen im Rigaer Zirkus teil. In den zwanziger Jahren organisierte Eduards Sloss-Knostenbergs die wochenlange Veranstaltung der besten internationalen Ringkämpfer, mit denen er regelmäßig korrespondierte. Johansons beschreibt, dass unterschiedliche Kämpfertypen zusammenkamen, die Sloss-Knostenbergs zum Beginn präsentierte: “Die Ringer teilten sich in bestimmte, klar unterscheidbare Typen ein. Dort sah man den schönen, wohlgeformten, soliden Österreicher Stecker, der Favorit der Damen, der auch nicht wegen eines Missgeschicks in der Karriere eines Schwerathleten zugrunde ging, sondern von einer unglücklichen Liebhaberin vergiftet wurde. Da war der listige und gewandte Russe Tschechurin. Mit schwarzer Mähne behaart, unermesslich fett, wahrscheinlich Tscheche, Karsch, zu dessen Aufgaben gehörte es, seine Gegner zu schlagen und minutenlang im Doppelten Nelson zu quälen.” (jauns.lv) Schließlich wurde als Höhepunkt der Weltchampion angekündigt: Es war der Lette Janis Leskinovics, den man den “Großen Janis” nannte (er stand oft in Deutschland als Ringer auf der Bühne). Über die Rigaer Ringkämpfe berichtete die lettische Presse ausführlich. Auch intellektuelles Publikum, Journalisten, Theaterkünstler und Honoratioren fanden sich ein. Sozialdemokrat Julijs Celms entging bei Ulmanis` Putsch für einige Tage der Verhaftung, weil er sich, als die Polizei ihn suchte, unentdeckt im Zirkus befand.  


Nach Johansons` Ausführungen war der Zirkus in der High Society am Anfang nicht en vogue gewesen. Man schämte sich zuzugeben, die Rigaer Manege besucht zu haben. Die Distanzierung vom Massenvergnügen schafft Exklusivität innerhalb privilegierter Gruppen. Welcher Akademiker gibt gern zu, dass er einen Fernseher hat? Das Naserümpfen über Massenunterhaltung kommt allzu billig; nach einem zwölfstündigen Arbeitstag in der Fabrik steht der Sinn nicht nach Kant-Lektüre. Gewiss hat Massenkultur oft etwas Ablenkendes und Narkotisierendes, damit das durch Lohnarbeit erschöpfte Publikum nicht auf revolutionäre Gedanken kommt. Doch die Vorstellungen erzählen von den Träumen, Wünschen, Hoffnungen der vielen. Ernst Bloch würde prüfen, wo sie den Vorschein auf bessere Zeiten werfen. Heutzutage schämt sich wohl niemand mehr, einen Zirkus zu besuchen; im Zeitalter virtueller Events hat das Zirkusspektakel selbst etwas reell Exklusives. Wie gestaltet sich Zirkus heute, was sind die Pläne der Macher? Darüber mehr im vierten Teil.


UB

 

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