Lettisches Centrum Münster e.V.

   
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Russland-Ukraine-Konflikt: Olaf Scholz traf sich mit den baltischen Regierungschefs
11.02.2022


Kein Wort über Nord Stream und Haubitze

Krisjanis Karins und Olaf Scholz am 10.2.22 in Berlin, Foto: Valsts Kanceleja, CC BY-NC-ND 2.0

 

Scholz lud die Ministerpräsidenten Estlands, Litauens und Lettlands am 10. Februar 2022 ins Berliner Kanzleramt, um die derzeitige brisante Lage im Verhältnis zu Russland zu erörtern (bundeskanzler.de). Politiker aus diesen Ländern hatten in jüngster Zeit die deutsche Haltung scharf kritisiert, dafür lieferte der lettische Verteidigungsminister Artis Pabriks Ende Januar ein Beispiel, der den Deutschen eine “pazifistische Nachkriegsphilosophie” vorwarf, die nicht mehr in die Zeit passe (LP: hier). In ihren Pressestatements blieben die vier Politiker diplomatisch, niemand äußerte die Reizworte “Nord Stream 2” und “Haubitzen”. Sie zeigten sich einig, geschlossen und entschlossen. Das Ziel dieses äußerlich harmonischen Auftritts formulierte die estnische Premierministerin Kaja Kallas: Jedes Zeichen der Uneinigkeit und mangelnden Entschlossenheit könne ein falsches Signal an Russland senden.


Doch in den Vorträgen wurden die unterschiedlichen Perspektiven erkennbar. Während Scholz bei weiterer Eskalation sich vor allem wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland vorstellte, betonten die baltischen Kollegen auch den militärischen Aspekt, kritisierten Russland scharf und verlangten eine weitere Stärkung der Nato-Ostflanke, also auch mehr Nato-Truppenpräsenz in den eigenen Ländern. Litauens Ministerpräsident Gitanas Nauseda bedankte sich bei Scholz, dass die Bundeswehr nun weitere 350 Soldaten in sein Land schicke, um die dort stationierte Nato-Einheit anzuführen. Solche internationalen Truppen der “NATO Enhanced Forward Presence” sind unter Führung des kanadischen, britischen und us-amerikanischen Militärs auch in Lettland, Estland und Polen stationiert. Diese „Battlegroups“ „rotieren“ ständig, werden also regelmäßig ausgetauscht, um formal der Nato-Russland-Akte von 1997 zu entsprechen, die - recht schwammig formuliert - die dauerhafte Stationierung zusätzlicher substantieller Nato-Kampftruppen an ihrer Ostgrenze mehr oder weniger ausschließt. Im Vertrag heißt es aber zwei Sätze später: „Russland wird sich bei der Dislozierung (=Verlagerung) konventioneller Streitkräfte in Europa entsprechende Zurückhaltung auferlegen,“ so liefert dieser Vertrag heutzutage beiden Konfliktparteien Argumente, das Verhalten des militärischen und geopolitischen Kontrahenten infrage zu stellen. 


Kaja Kallas, die Premierministerin Estlands, warnte vor der Rückkehr zur Situation von 1997, als die baltischen Länder noch nicht Mitglied der Nato waren. Russland versuche, in eine Zeit zurückzukehren, in der noch das Denken in Einflusssphären die bestimmenden Prinzipien gewesen seien. Kallas befürchtet, dass der Kreml im Sinn habe, in Europa eine neue Mauer zu errichten. Die derzeitige Lage zeige, dass die Nato zurecht ihre Ostflanke verstärke. Sie verlangte, Russland keinerlei Zugeständnisse zu machen, solange “man uns das Gewehr an die Brust” halte.  


Ihr Nachbar und Kollege Krisjanis Karins kritisierte aus lettischer Position Russlands Verhalten ebenso scharf, übernahm auch Kallas` Bildsprache. Die Zukunft der Ukraine werde derzeit durch Russland infrage gestellt, das mit gezogener Waffe verhandeln wolle. Die Demokratie in Europa sehe sich mit Putins “neoimperialistischem Ansatz” konfrontiert. Dessen unbegründeten Forderungen dürfe man nicht einfach nachgeben. Mit Russland müsse man aus einer Position der Stärke verhandeln, eine Stärke, die Karins auch im militärischen Sinne meinte.  


Nicht nur der schon lange währende Konflikt um die Nord-Stream-Röhren, sondern auch der Streit um die neun alten NVA-Haubitzen blieb unerwähnt, die einst im deutschen Bestand waren, dann über Finnland an Estland gelangten. Diese Geschütze möchte die estnische Regierung nun der Ukraine liefern, benötigt dafür aber die Genehmigung der Bundesregierung, die bislang zögert, diese zu erteilen. Lettische Kritiker weisen berechtigterweise auf das fragwürdige Verhalten Deutschlands hin, das zu den größten Waffenexporteuren des Planeten zählt. Lettische Medien berichteten im Zusammenhang mit dem Haubitzenstreit, dass Deutschland in den letzten fünf Jahren seinen Waffenexport um 21 Prozent gesteigert habe (tv3.lv). Es scheint ausländischen Beobachtern so, als ob nicht ethische und pazifistische Prinzipen, sondern wirtschaftliche Interessen und vielleicht auch geopolitische Erwägungen die deutsche Waffenexportpolitik bestimmen.  


In den letzten Jahren lieferten deutsche Waffenschmieden ihre tödliche Fracht sogar Saudi Arabien (imi-online.de) und Katar (imi-online.de), die am vom Westen weitgehend ignorierten Krieg im Jemen beteiligt sind. Dabei betont die Bundesregierung, keine Waffenexporte in Länder, die in militärische Konflikte verwickelt sind, zuzulassen (dw.com).Verantwortlich für solche fragwürdigen Genehmigungen ist der geheim tagende Bundessicherheitsrat, ein Gremium aus der Adenauer-Zeit, in dem der Kanzler oder die Kanzlerin mit ihren wichtigsten Ministern vor der Öffentlichkeit und dem Parlament verborgen über Waffenexporte entscheidet. Olaf Scholz war bereits als Finanzminister Mitglied des Bundessicherheitsrats, unter der Führung der Kanzlerin Angela Merkel. Einige Bundestagsabgeordnete beklagen die Existenz dieses intransparenten Gremiums, dessen Beschlüsse nun zur Unglaubwürdigkeit der deutschen Außenpolitik beitragen (bundestag.de, dlf.de).


Übrigens verbietet auch die israelische Regierung den Balten, israelische Waffen in die Ukraine zu liefern, nicht aus pazifistischen Gründen, sondern weil sie gute Beziehungen zu Russland wünscht. Die Israelis haben Sorge, dass ihre Spike-Panzerabwehrwaffen, die alle drei baltischen Länder gekauft haben, der Ukraine gespendet werden (breakingdefense.com). Die deutsch-israelische Eurospike GmbH produziert diese Waffe, es handelt sich um ein Konsortium, an dem die Waffenhersteller Rafael (Haifa), Deal Defence (Überlingen) und Rheinmetall (Düsseldorf) beteiligt sind. Lettland hatte im Februar 2018 Spike-Raketen-Systeme im Wert von 108 Millionen Euro bestellt. Ein Vertreter des lettischen Verteidigungsministeriums bekundete, dass Lettland nicht plane, diese Waffen an die Ukraine zu liefern (jauns.lv).


Lettische Medien berichteten unter ferner liefen über das baltische Stelldichein im Berliner Kanzleramt. LSM-Journalistin Odita Krenberga erwähnte nach ihrer Zusammenfassung der Statements die Tabuwörter Nord Stream und Haubitze, zudem die Verdrossenheit des ukrainischen Außenministers Dmytro Kuleba über deutsche Waffenexportverbote; dann schloss sie ihren Beitrag mit einer Zahl, die das Meinungsforschungsinstitut Forsa Anfang Februar veröffentlichte: Demnach seien 67 Prozent der befragten Deutschen mit der Reaktion ihrer Regierung auf die Ukrainekrise unzufrieden (lsm.lv).


Mit diesem Framing führte Krenberga ihre lettische Leserschaft hinters Licht, denn die Kritik der Deutschen ist völlig anders geartet, als es ihr Artikel suggeriert. RND-Journalist Jan Emendörfer fasste die Ergebnisse dieser Forsa-Umfrage zusammen: 69 Prozent der Befragten sind mit Scholz` Verhalten unzufrieden, weil er sich im Russland-Ukraine-Konflikt nicht genügend engagiere. 53 Prozent sind besorgt, dass es in diesem Konflikt zu einem Krieg kommt. Ebenso viele sind der Ansicht, dass der Westen alles tun müsse, damit sich Russland als Teil Europas fühlt. Für 90 Prozent sind gute Beziehungen zu Russland wichtig. 85 Prozent wünschen sich eine von den USA unabhängige europäische Außenpolitik, die auch russische Interessen berücksichtigt. In Ostdeutschland machen 43 Prozent die USA für die Konfliktverschärfung verantwortlich und nur 32 Prozent Russland (md.de)

UB 




 
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