Saeima-Abgeordnete erklären ihre Solidarität mit der Ukraine
24.02.2022
“Eine Tragödie für die Menschen, eine Tragödie für die Völker”
Abgeordneter Sergejs Dolgopolovs, Foto: Ernests Dinka, Saeimas Kanceleja CC BY-SA 2.0, Saite
93 von 100 Saeima-Abgeordneten stimmten am Tag des Angriffs Russlands auf die Ukraine für eine Erklärung, die diese völkerrechtswidrige Aggression scharf verurteilt. Sie werten den Überfall durch russische Truppen als Verstoß gegen die Statuten der Vereinten Nationen und der UN-Resolution vom 27. März 2014 “Über die territoriale Integrität der Ukraine”. Die Russische Föderation und Belarus werden aufgefordert, die militärische Aggression unverzüglich zu stoppen, das Militär aus der Ukraine zurückzuziehen, zu deeskalieren und nach diplomatischen Lösungen zu suchen. Die Abgeordneten bekunden ihre Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung, deren Bemühung um eine demokratische Entwicklung und den euroatlantischen Integrationsprozess ihres Landes. Die EU und ihre Mitgliedstaaten werden aufgefordert, geeint die Ukraine zu unterstützen, politisch, wirtschaftlich, technisch auf allen Gebieten, “unter anderem in den mit Sicherheit und Verteidigung verbundenen Bereichen”. Die Saeima betont, dass laut Artikel 51 der UN-Charta der Ukraine das Recht zur Selbstverteidigung zusteht und daher ihre militärische Unterstützung gerechtfertigt sei. Von der NATO forderten die Abgeordneten, die Ostflanke militärisch zu stärken. Die unbegründete und nicht provozierte Aggression Russlands und Belarus` sei mit der Mitgliedschaft in Organisationen unvereinbar, die Frieden, Sicherheit und Menschenrechte vertreten. Die Saeima fordert die UN und andere Organisationen dazu auf, Russland, Belarus und deren Amtsträger scharf zu bestrafen und diese Länder aus dem Europarat auszuschließen.
In der anschließenden Aussprache, die keiner Debatte glich, sondern weitgehend die Einigkeit der Regierungsfraktionen mit der Opposition demonstrierte, sahen sich die Abgeordneten in ihren Warnungen über russische Pläne bestätigt. Krista Baumane, Mitglied der liberalen Regierungsfraktion “Attistibai/Par!”, betonte, dass lettische Politiker die Welt sowohl auf internationalen Foren als auch bei Treffen mit ausländischen Amtsträgern, in den Massenmedien und in den “sozialen Netzwerken” gewarnt hätten, dennoch stelle sich das russische Vorgehen nach Aussagen westlicher Kollegen für die meisten Menschen nun als Überraschung dar: “`Wir glaubten nicht, dass das geschehen wird,` bekennen sie. Nun ist die rosa Brille endlich heruntergefallen. Alle Illusionen über die Kraft der Enthaltsamkeit und Hoffnungen auf Diplomatie haben sich in Luft aufgelöst und allen steht es nun klar vor Augen. Putin ist ein aggressiver Diktator, der auf die internationale Rechtsordnung spuckt, die nach dem Zweiten Weltkrieg lange und sorgfältig aufgebaut wurde und am allerwahrscheinlichsten wünscht er, die Sowjetunion zu erneuern, deren Zusammenbruch seiner Auffassung nach die größte Katastrophe des Jahrhunderts war. Die Welt darf das nicht gestatten. Wir dürfen das nicht gestatten.”
Aldis Adamovics, Mitglied der rechtsliberalen Regierungsfraktion “Jauna Vienotiba”, der eine Abgeordnetengruppe anführt, die im freundschaftlichen Austausch mit Parlamentariern der ukrainischen Rada steht, war schon am frühen Morgen alarmiert: Russische Streitkräfte versuchten mehrere Flughäfen und militärische Ziele zu zerstören und sie stießen dabei auf starken Widerstand. Lettische Politiker hätten die Ukrainer moralisch und emotional unterstützt und würden dies weiterhin tun. Er wies darauf hin, dass er sich nach der Sitzung mit den ukrainischen Kollegen in einer Online-Konferenz treffen werde: “Wir werden versuchen, uns mit einigen Rada-Abgeordneten zu verbinden und vielleicht auch mit unseren führenden Kommunalpolitikern, um ganz praktische Dinge zu besprechen, die unter Umständen in nächster Zeit gelöst werden müssen zur Unterstützung von Flüchtlingen, denn gestern traf die Nachricht ein, dass Russland mit dem Versuch beginnen könnte, auch die Regierungsmitglieder und Parlamentsvertreter mit ihren Familien und Kindern unter Druck zu setzen und daher müssen wir auf weitere Schritte vorbereitet sein.”
Rainis Znotins, Abgeordneter der gemäßigt nationalkonservativen “Jauna Konservativa Partija”, schlug eine Art Fünf-Punkte-Plan zur lettischen Sofortreaktion vor. Eine Demonstration vor der russischen Botschaft in Riga sei schon im Gang, Znotins forderte seine Landsleute auf, sich zu beteiligen. Zudem sollten sich alle Einwohner und die Abgeordneten dafür einsetzen, dass die staatliche Medienaufsicht russische Propagandakanäle sofort blockiere und sie durch ukrainische Sender austausche, damit die Einwohner, insbesondere die russischsprachigen sehen, was sich in der Ukraine tatsächlich abspiele. Zudem forderte er die Bürger dazu auf, sich bereit zu halten, ukrainische Frauen und Kinder aufzunehmen. Die russische Wirtschaft und ihre Produkte und Wertpapiere, soweit sie den Krieg finanzierten, müssten umfassend boykottiert werden. Schließlich appellierte er an seine Landsleute, in die Nationalgarde einzutreten.
Rihards Kols, Abgeordneter der nationalkonservativen Regierungsfraktion “Nationale Allianz”, forderte den Ausschluss Russlands aus dem internationalen Finanzsystem, also Sanktionen, die der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz vor ein paar Wochen als “Atombombe für die Finanzmärkte” bezeichnet hatte. Kols forderte, Russland in der zivilisierten Welt zu isolieren: “aus SWIFT, Visa, Mastercard ausschließen, der Russischen Zentralbank operative Reserven untersagen, das Vermögen der ganzen Elite einfrieren, das Einreisen in das Gebiet von EU und NATO verbieten, bestimmte Personen ausgenommen, wie auch die Blockade russischer Propagandakanäle.” Kols` Fraktionskollege Janis Dombrava verurteilte den Angriff der “Okkupanten des Kremls” und griff die russische Minderheit im eigenen Land an: “In unserer Mitte leben tausende Bürger Russlands, die bei der letzten Präsidentsschaftswahl für den blutrünstigen Diktator Putin gestimmt haben. Der Einfluss erstreckt sich auf Medien, Sport, Bildung und Wirtschaft. In allernächster Zeit wird die Saeima darüber entscheiden, wie der Einfluss Russlands in Lettland unterbunden wird. Doch derzeit sollten wir uns nicht täuschen und der Ukraine klare Unterstützung erweisen.”
Raimonds Bergmanis, Mitglied der nationalkonservativ-grünen Oppositionsfraktion “Union der Grünen und Bauern” und bis 2018 Verteidigungsminister, appellierte hingegen an die Einheit zwischen Letten und russischsprachiger Minderheit: “Wir fordern dazu auf, sich bewusst zu machen, dass die Sicherheit Lettlands nicht nur eine Angelegenheit der NATO und den Nationalen Streitkräften der Lettischen Republik ist, sondern in den Händen eines jeden Bürgers liegt - unabhängig von den ethnischen oder religiösen Überzeugungen. Lassen wir die Dinge zurück, die uns trennen, seien wir uns bewusst, dass der Zusammenhalt unseres Volkes heute der Sicherheitsgarant unseres Landes von morgen ist. Nicht nur für uns selbst, sondern auch für unsere Kinder und die nächsten Generationen.”
93 Saeima-Abgeordnete stimmten für die Erklärung, die übrigen sieben Parlamentarier nahmen an der Abstimmung nicht teil. Auch die sozialdemokratische Saskana, die größte Fraktion, die in der Opposition isoliert ist, weil ihr von lettischer Seite vorgeworfen wird, eine “Kreml-Partei” darzustellen, unterstützte den Text. Der Saskana-Abgeordnete Sergejs Dolgopolovs ist von Jahrgang 1941 und er begann mit seinen Kriegserfahrungen: “Verehrte Kollegen! Ich bin wahrscheinlich einer von recht wenigen Abgeordneten, es scheint, dass wir zwei sind, welche auf der eigenen Haut gespürt haben, was Krieg bedeutet. Was es bedeutet, Tag und Nacht im Keller zu verbringen, darüber nachsinnend, dass dieser Keller vielleicht sich zu einem beliebigen Zeitpunkt in ein Familiengrab verwandeln wird. Das bleibt mir mein Leben lang in Erinnerung. Und deshalb ist jegliche Konfliktlösung mit den Mitteln des Kriegs zu bestrafen, unbezweifelbar.
Und daher unterstütze ich hier diese Erklärung, um ehrlich zu sein, um etwas die Emotionen zu mindern... um mehr über die weitere Arbeit nachzudenken, das Agieren, die folgenden Schritte, einige Dinge muss ich hier nicht anführen, denn der Hauptgedanke befindet sich hier in dieser Erklärung, dass man in der Welt keinen Krieg erlauben darf. Die Erdkugel ist sehr klein. Wir sind eine begrenzte Zahl von Menschen, die hier auf dieser Kugel leben und wir können nicht gestatten, dass Kriege die Lösung sind... dass sie als Mittel zur Lösung von Problemen benutzt werden. Prinzipiell, an jedem Ort, von welchem Land auch immer. Und heute möchte ich sehr, dass, um über unsere Reaktionen zu sprechen, über die Unterstützung für die leidende Seite, die das ukrainische Volk ist, wir auch daran erinnern, dass sich auch das russische Volk in einer leidenden Position in diesem Fall befindet, denn es wird von der Welt als das Volk des Aggressors betrachtet. Das ist ein Problem, eine Tragödie für die Menschen, eine Tragödie für die Völker. Und ich denke daran, dass, falls wir ernsthaft über die Sicherheit unseres Landes nachdenken, dann ist das hauptsächlich in dieser Hinsicht keine Frage der Finanzierung des Verteidigungsbudgets, nicht die Frage nach der Anzahl von Kanonen, sondern die Frage danach, wie geeint wir sind, wie weit wir fähig sind, jeglichen Versuch, uns teilen zu lassen, abzuwehren, uns zu teilen, um zu herrschen, egal, ob dies von Innen oder von Außen geschieht.”
UB
Atpakaï