TV-Doku zum lettisch-livischen Ligo-Fest am Kap Kolka
21.06.2021
Lettlands weiße Küste. Vom Zauber einer Sommernacht.
Kap Kolka, Foto: Edgars Sulcs, Eigenes Werk CC BY-SA 4.0, Link
Die Aufnahme aus der Kameradrohne ist imposant: Sie zeigt, wie spitz das Kap Kolka tatsächlich zuläuft; das Horn, das die Rigaer Bucht von der Ostsee trennt. Zuweilen ist hier sogar der Wasserspiegel wie mit einem Strich durchzogen: Dort die Wellen der unruhigen Ostsee, hier die glatte Fläche der ruhigen Rigaer Bucht. Über der Bucht geht die Sonne auf, über der Ostsee geht sie unter. Kolka ist der einzige Ort Lettlands, wo die Sonne über dem Meer aufsteigt und darin auch wieder verschwindet. Galina Breitkreuz liefert mit ihrer Reportage von 2019 ein einfühlsames Porträt von diesem abgelegenen Landstrich und seinen Bewohnerinnen und Bewohnern. Ihr Film zeigt, wie sich zwei Nachfahrinnen der Liven und ihre lettischen Angehörigen auf das wichtigste Fest des Jahres vorbereiten, auf die Johannisnacht vom 23. auf den 24. Juni. Das erinnert an Johannis den Täufer; doch für die Balten ist es das Fest der Sonnenwende (die sich eigentlich zwei Tage früher ereignet) und ihr Höhepunkt des Jahres.
Breitkreuz verbringt die Tage vor dem Fest mit zwei Bewohnerinnen des Kaps, die livischer Herkunft sind. Der Stamm der Liven siedelte als erster hier, er sprach eine eigene Sprache, die inzwischen niemand mehr als Muttersprache spricht. Doch hierzulande schätzt man Traditionen und so erklingt auch die livische Sprache in den Liedern des Folklorechors weiter. Traditionen künden von der engen Verbundenheit mit der Natur: Wiesen- und Kräuterblumen werden zu Kränzen geflochten, manches Gewächs gilt als Heilmittel. Die Mentalität der Balten kennzeichnet ein doppeltes Verhältnis zu ihr: Einerseits ist es spirituell, magisch und esoterisch - von Energie und Heilkraft ist die Rede, andererseits ist es recht praktisch, die Menschen hier sind noch ein bisschen Jäger und Sammler geblieben und können sich zu einem großen Teil selbst versorgen.
Breitkreuz interviewt eine Campingplatzbesitzerin, die Köchin eines Kindergartens, einen Fischer mit kleinem Boot und einen Mechaniker. Niemand von ihnen kann mit seiner Arbeit zu größerem Wohlstand gelangen; vielleicht ist manches unbequemer in einer Landschaft mit sandigem Boden, in der die Natur ihre “schnörkellose Wucht” zeigt, wie es im Film heißt. Je kürzer und wärmer die Nächte im Sommer, desto länger und frostiger sind sie im Winter. Sturm kann hier den Seeleuten schwer zu schaffen machen, man findet ein Denkmal für die Ertrunkenen. Das 640-Seelen-Dorf Kolka ist nicht gerade ein Mekka der Freizeitindustrie, man muss sich hier schon selbst zu beschäftigen wissen. Viele, die in Kolka geboren wurden, haben die Gegend verlassen. In der Sowjetzeit war sie ein unwirtliches Gelände. Die Einwohner durften den gesperrten Strand nicht betreten. Die Machthaber fürchteten, dass sie über das Meer hätten fliehen können.
Doch jene, die blieben, schätzen die spitze Landzunge zwischen den Meeren. Sie sprechen von der Freiheit. Damit ist zunächst die wiedererlangte politische Unabhängigkeit gemeint. In sowjetischer Zeit war an ihrer Küste das Feiern des Johannisfests verboten und die Arbeit in einer Kolchose organisiert. Jetzt sind sie Gewerbetreibende mit geringem Einkommen, die das Nötigste vom Nachbarn beziehen. Wer die Milch für den selbst zubereiteten frischen Kümmelkäse, der in der Johannisnacht serviert wird, nicht vom Bauern, sondern im Supermarkt kauft, sei zu faul, heißt es. Das Persönliche und Nachbarschaftliche bedeutet eine besondere Lebensqualität, die sich in der Großstadt kaum finden lässt. Das Leben am Rande der Zivilisation ermöglicht zudem eine gewisse ökonomische Emanzipation jenseits des Gelderwerbs: Hier scheinen die Menschen weniger von der Lohnarbeitsgesellschaft und deren soziale Hierachien eingespannt und sie sind imstande, selbstbestimmter und unabhängiger als im dichten Arbeitstakt einer Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft zu leben.
Kap Kolka, Lettlands markantester geographischer Punkt, entwickelt sich allmählich zu einem touristisch reizvollen Ort, an der Hornspitze locken die endlos langen weißen Sandstrände der Kiefernküste. Vergnügungshungrige werden hier allerdings vergeblich nach Events Ausschau halten. Es ist eher ein Ort für jene, die vom elendigen Getriebe des modernen Lebens und Wirtschaftens Abstand benötigen. Die Filmdokumentation ist noch bis zum 19. Juli 2021 in der Arte-Mediathek zu sehen.
Lettlands weiße Küste - Vom Zauber einer Sommernacht - Die ganze Doku | ARTE
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