Karlis Ulmanis: Charisma aus der Mottenkiste
30.09.2009
Ulmanis, der noch heute verehrte Diktator, Foto: Udo Bongartz
K?rlis Ulmanis ist der Politiker, der die politischen Lager spaltet und sich offenbar auch zur linken Feindbildbestimmung eignet: So ist auf Webseiten zu lesen, dass er sich mit den faschistischen Donnerkreuzlern verbündet und sich als Diktator den Nationalsozialismus zum Vorbild genommen habe 1. Oder man schiebt ihm im verkürzenden und vieldeutigen Nominalstil, eingereiht mit Hitler und Stalin, Kollaboration, Juden-Deportationen und Gründung der lettischen SS-Legion gleich mit in die Schuhe 2. Dabei geschah dies schon zu einer Zeit, als der einst mächtigste Mann Lettlands in stalinistischer Gefangenschaft seinen Tod fand.
Umgekehrt trauern manche in der lettischen Bevölkerung der Ulmanis-Zeit hinterher, als hätten sie mit ihr das Paradies verloren. Das lettische Geschichtsbuch Latvija Likte?a gait?s/ Lettland auf seinen Schicksalswegen 1918-1991 teilt die Sicht des damaligen Politikers ?dolfs Kl?ve, der auf folgende Weise begründete, warum Ulmanis 1934 die Demokratie abschaffte: „Jene handelnde [demokratisch-bürgerliche] Regierung war überhaupt keine Regierung mehr. Sie regierte weder Staat noch Volk, sondern trottete den Geschehnissen hinterher, nicht wissend, wohin die unkoordinierten Abstimmungen im Parlament diese treiben würden – jede Abgeordnetengruppe konnte ungestört ihre separate Politik aushecken, der Regierung dafür die ganze Verantwortung hinterlassend. So erhob sich anstelle der Koalition der [sozialdemokratische] Oppositionsabgeordnete V. Bastj?nis zur bestimmenden Person, die darüber entschied, welche Mittel für welche Ziele man der Regierung von H. Celmi?š 3 zur Verfügung stellte. - Überflüssig zu vermerken, dass eine solche Ordnung den Zusammenbruch der Demokratie im großen Maß begünstigte.“4 Hier zitieren die Autoren recht unkritisch einen Parteifreund des Vadonis. Kl?ve wollte bereits in den zwanziger Jahren die mit liberalen Minderheitenrechten ausgestattete Verfassung beseitigen. Er forderte eine lettische „Wirtschaftsfront“, um ethnische Minderheiten, also Russen, Juden und Deutsche vom Wohlstand fernzuhalten 5.
Demnach hatten die Parlamentarier selber schuld und Ulmanis ermächtigte sich lediglich, Staat und Nation mit autoritärer Herrschaft zu retten. Und mit dieser begannen angeblich „die guten Jahre“, die die Autoren der „Schicksalswege“ so beschreiben: „Das Volk nahm den Umsturz im großen und ganzen wohlwollend zur Kenntnis. Das vollständige Unvermögen, die dem Parlament anvertrauten Aufgaben zu bewältigen, hatte die Mehrheit der Bevölkerung längst satt; das Volk sehnte sich nach einer entschiedenen und starken staatlichen Macht. In wirtschaftlicher Hinsicht bleibt die Ulmanis-Zeit (1934-1939) als Periode eines gedeihenden Wohlfahrtsstaats und der wirtschaftlichen Blütezeit in Erinnerung.”6
Im Nationaltheater wurde 1918 die lettische Republik proklamiert,
Ulmanis wurde ihr erster Ministerpräsident, Foto: Udo Bongartz
Ulmanis – Eine facettenreiche Person
Hinter solch widersprüchlichen Bewertungen verschwindet die historische Person Ulmanis. Vielleicht sollte man zunächst einmal die Fakten nennen. Der Politiker wurde 1877 im kurländischen Ort B?rze geboren, ging 1897 nach Ostpreußen, wo er sich mit Milchwirtschaft beschäftigte. Von Anfang an verband er sein Interesse an der Agrarwirtschaft mit politischem Engagement, kämpfte für die lettische Sache gegen die russische Herrschaft. Nach Studium in Leipzig und Zürich arbeitete er u.a. als Redakteur während der Revolutionsjahre 1905-07. In seinen Artikeln forderte er, lettische Schulen einzurichten. Das Zarenregime inhaftierte ihn für ein halbes Jahr. Um weiteren Verfolgungen zu entgehen, floh er im Herbst 1906 in die sächsische Stadt Annaberg, wo er als Lehrer für Agrarökonomie arbeitete. Später siedelte er in die USA über. Dort beendete er sein Studium und unterrichtete eine Weile als Lektor. Als der Zar 1913 eine Amnestie beschloss, kehrte Emigrant Ulmanis zurück.
Während der Kriegszeit arbeitete er für verschiedene landwirtschaftliche und politische Organisationen, gründete 1917 die Partei Latviešu Zemnieku savien?ba/ Lettischer Bauernbund. Als die deutsche Reichswehr einmarschierte, initiierte er im kurländischen Ort Priekule ein Unterstützerkomitee für lettische Landwirte in der besetzten Region Vidzeme. Er wirkte aktiv im Demokratischen Block mit. Auf einem Bauernkongress in der nordlettischen Grenzstadt Valka forderte er am 17. November 1918 die Gründung eines unabhängigen Lettlands. Diese wurde einen Tag später im lettischen Nationaltheater verkündet, Ulmanis zu ihrem ersten vorläufigen Regierungschef ernannt. 7
Der Chef der Bauernpartei regierte den neuen Staat in unruhiger Zeit. Von links bedrohte die bolschewistische Regierung von P?teris Stu?ka, von rechts die Interessen der baltendeutschen Barone und der Freikorps die demokratische Republik. Die Adeligen wollten ihre Privilegien verteidigen und die deutschen Soldaten fürchteten die Arbeitslosigkeit im Deutschen Reich, hofften, in Lettland siedeln zu können. Reichswehrgeneral Rüdiger Graf von der Goltz putschte gar gegen Ulmanis, der vor den Bolschewisten nach Liep?ja geflohen war. Die Deutschen installierten eine dritte, ihnen freundlich gesinnte Regierung auf lettischem Territorium. Mit britischer und estnischer Hilfe gelang es den Letten, die Feinde ihres unabhängigen Landes zu besiegen. Ulmanis kämpfte 1919 gegen das letzte Aufgebot deutsch-russischer Truppen unter Führung des Grafen Bermondt, die unter dem Vorwand, gegen den Bolschewismus zu kämpfen, auf Riga marschierten. Der Regierungschef hielt in einem Studentenbataillon die Stellung und verletzte sich dabei.
In den zwanziger Jahren regierte der Staatsgründer mehrmals als legal gewählter Ministerpräsident und übernahm verschiedene Ministerposten. Er hatte der verfassungsgebenden Versammlung angehört, die 1922 eine parlamentarische Demokratie beschloss. Er verstieß gegen die Ideale der selbst mit ausgearbeiteten Verfassung, als er im Mai 1934 putschte.
Um die Demokraten von der Macht zu vertreiben, genügte damals ein Schuss in die Luft. Der Umsturz kostete kein Blut. Oppositionelle, vor allem Sozialdemokraten, ließ der Vadonis verfolgen und inhaftieren. Niemand musste um sein Leben fürchten, keine einzige Todesstrafe wurde in seiner Diktatur vollstreckt. Er schaffte das Parlament ab, verbot Parteien und politische Organisationen, auch den gleichsam antisemitischen wie deutschfeindlichen Donnerkreuzorden.
Diese Gedenktafel befindet sich am lettischen Außenministerium,
Text: "In diesem Gebäude arbeitete und wohnte der lettische Staats- und Ministerpräsident Dr. Karlis Ulmanis."
Foto: Udo Bongartz
Prominente lettische Historiker, die im Auftrag der ehemaligen Ministerpräsidentin Vaira Vi?e Freiberga 2005 ein Buch zur lettischen Geschichte im 20. Jahrhunderts schrieben, sind der Ansicht, dass der Diktator den Konflikt zwischen Rechts- und Linksradikalen aufbauschte, um seine Herrschaft zu rechtfertigen: „Weder Kommunisten noch Donnerkreuzler waren imstande, irgendwelche ernsthafte Unruhen auszulösen, andere Gruppierungen muss man gar nicht erst erwähnen. Die Regierungen hatten auf normale Weise ihre Arbeit getan und ihre mittlere Dauer währte zuletzt länger als am Anfang der zwanziger Jahre. Am Ende des Jahres 1933 wurde bereits sichtbar, dass der Ausweg aus der Wirtschaftskrise bevorstand, langsam, schmerzlich, aber dennoch – eine Genesung.“
Die Demokratie jener Jahre schildern die Autoren zwar als immer noch schwach, aber sie funktionierte. Warum entschloss sich Ulmanis dennoch, die Verfassung zu beseitigen und durch eine Staatsordnung, die auch den Donnerkreuzlern gefiel, zu ersetzen? Die Historiker erwägen eitle persönliche Gründe: Seit 1931 sank der Stern des Staatsgründers, er wurde nicht mehr als Erster in den Wahlbezirken ins Parlament gewählt. Tatsächlich habe seine Machtergreifung weder die außen- noch innenpolitische Lage des Landes verbessert. 8
Die Ulmanis-Ära war eine Zeit des lettischen Nationalismus, der Diskriminierung der Minderheiten, der Vadonis ließ nach und nach ihre Schulen schließen und nahm ihnen ihre kulturelle Autonomie. Im Sinne einer Volksgemeinschaft wurden die Interessengegensätze zwischen Stadt und Land, zwischen Bürgern, Arbeitern und Bauern geleugnet, der lettische Bauer idealisiert. Dem sowjetischen Proletarierstaat stand nun auch der kleine lettische Bauernstaat als drittes baltisches Land entgegen, in welchem ein Diktator sich die Macht angeeignet hatte. 9
Schließlich wurden der Vadonis und seine Bürger Opfer des großen Nachbarn. Als 1940 die Rote Armee das Land besetzte, rief Ulmanis die Bevölkerung auf, keinen sinnlosen Widerstand zu leisten. Stalins Schergen verhafteten und deportierten ihn nach Turkmenistan, wo er 1942 als Gefangener starb. So machten die Sowjets aus dem Diktator einen Märtyrer seines Volkes und propagierten zynisch den Anschluss Lettlands als Sozialistische Sowjetrepublik. Noch heute argumentieren russische Politiker, Lettland habe sich freiwillig dem Stalin-Regime unterworfen, weil die Letten keinen militärischen Widerstand geleistet hatten.
Ulmanis, der Revolutionär, der Staatsgründer, der Demokrat, der Diktator und Märtyrer, sein Bild hat viele politische Farben. Es scheint aber so, als ob sich ältere Letten besonders gern an die „guten Jahre“ seines autoritären Regimes erinnern.
Die Luft ist raus: Aigars Bikšes` Plastik "Ide?lists" an der Stelle des früheren Lenin-Denkmals im entleerten Zustand, doch die Krisenzeit führt dazu, dass dieser Vadonis (oder sein Verehrer?) bald wieder aufgeblasen werden wird...
Foto: Udo Bongartz
Die charimatische Inszenierung: Mehr Schein als Sein
Der Soziologe M?ris Brants 10 fragt sich, woher diese verklärende Sicht auf die Diktatur kommt. Als die Letten ihre nationale Unabhängigkeit erneut errangen, wurde ein Verwandter des Vadonis, Guntis Ulmanis, 1993 ihr Staatspräsident. Der Lettische Bauernbund/ Latvijas Zemnieku savien?ba (LZS), Nachfolgeorganisation der ehemaligen Ulmanis-Partei, hatte ihn zum Kandidaten ernannt. Die lettischen Wähler beriefen ihn zuvor mit dem zweitbesten Stimmenergebnis auf der LZS-Kandidatenliste ins Parlament. Für Brants belegt dies den Wunsch, zu den alten Zeiten zurückkehren zu wollen.
Eine Diktatur erscheint effizienter als der Parlamentarismus: Statt langer Debatten und quälender Kompromisssuche zwischen konkurrierenden Interessengruppen verkündet ein Staatschef den Volkswillen. Das Volk hofft, dass ein starker Mann den gordischen Knoten einfach durchhaut. Und dieses unentwirrbare Knäuel symbolisiert in Krisenzeiten die Furcht vor sozialem Abstieg, zunehmender Konkurrenz um Arbeitsplätze und knapper werdendem Wohlstand. Freilich könne, so Brants, die Bereitschaft der Staatsbürger, sich selbst zu entmündigen, auch ein Pol-Pot-Regime hervorbringen, das zirka zwei Millionen seiner Landsleute massakrierte.
Doch K?rlis Ulmanis erscheint den Letten als weiser Staatslenker. Er inszenierte sich als Retter in der Krise und schrieb den Aufschwung der Weltwirtschaft, der 1933 auch Lettland erreichte, auf seine Fahnen. Er gab sich charismatisch, habe, so Brants, Lobhudeleien wie “Europas größter Staatsmann und Redner, der nur mit Julius Caesar und Oliver Cromwell verglichen werden kann” wie selbstverständlich akzeptiert. Der Vadonis gab sich als Mann der “majestätischen Vorsehung”, als “großer Sämann” oder schlicht als “Doppelgenie”. Nach Ansicht des Soziologen hat Krisengewinnler Ulmanis eine Phase der Konjunktur erwischt und geschickt für seine Propaganda genutzt, erst im nächsten wirtschaftlichen Abschwung hätte sich gezeigt, was seine Staatskunst wirklich wert ist. Doch der Zweite Weltkrieg unterbrach den Wirtschaftszyklus.
Brants erklärt die Sehnsucht nach dem Vadonis historisch mit dem tiefen Einschnitt, der folgte, als Ulmanis in sowjetischen Kerkern verschwand: Nach einer Diktatur, die dem Donnerkreuz-Motto “Lettland den Letten” frönte, war das Volk nun Demütigungen, Verfolgungen, Deportationen, Mord und Terror der Sowjetdiktatur ausgeliefert. Die Letten setzten den Verbrechen kaum Widerstand entgegen, weil sie sich bereits mental an die Diktatur gewöhnt hätten. Für den Wissenschaftler ist ein lettisches Stoßgebiet jener Zeit charakteristisch: “Herr, lass` Ulmanis und Schweine vom Himmel regnen.” Er interpretiert die Schweine als Symbol für den Wohlstand, den die Letten nach dem Überfall der Roten Armee auf ihr Land eingebüßt hatten.
So bleibt die Suche nach dem charismatischen Staatsmann bis heute aktuell. Das Beispiel Ulmanis zeigt: Ein solcher ist mehr Schein als Sein, eine aufgeblasene Figur, die die Erwartungen des unmündigen Staatsbürgers erfüllen soll.
Der Aktionskünstler Aigars Bikše stellte im September, im Geburts- und Todesmonat des Vadonis, eine solche dar: Alle zwei Minuten ließ er in der Nähe des Regierungskabinetts eine mehrere Meter große blaue Plastikhülle prall aufblasen, die einen Vadonis oder seinen Verehrer verkörpert. Dies bleibt ebenso vieldeutig wie der Bezug auf die Historie: Bikše möchte sich nicht auf einen bestimmten Politiker, etwa Ulmanis oder Lenin, festlegen. Er will das Prinzip charismatischer Verehrung darstellen. Allmählich schwand die Luft und der große Vadonis (bzw. sein Verehrer) sackte in sich zusammen, um erneut aufgebläht zu werden. Diese Plastik versah Bikše mit der Inschrift: “Ein Zwei-Minuten-Zyklus der historischen Wahrheit”.
Da scheint er wieder zu sein, der Vadonis (oder sein Fan), der verspricht, das Volk aus der Krise zu führen.
Foto: Udo Bongartz
Die Suche nach dem politischen Heilsbringer ist keine lettische Spezialität. Auch in anderen westlich-parlamentarischen Demokratien setzt die Wahlpropaganda auf das Charisma des Leaders. So inszenierten sich deutsche Bundeskanzler als “Macher” oder “Basta-Kanzler”. Charismatisch inszenierte Spitzenkandidaten können ihre vollmundigen Wahlversprechen häufig nicht erfüllen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sie als demokratische Regierungschefs nicht über die Machtfülle verfügen, die sie vor ihrer Wahl suggerieren. Auch dies ist eine Ursache der allgemein beobachtbaren Politikverdrossenheit. Demokratische Regierungschefs sind nur ein Element in einem System wechselseitiger Gewaltenkontrolle. Doch mehr Ehrlichkeit, die darin bestünde, der Bevölkerung zu sagen, dass man nach der Wahl nicht alles ändern könne, weil eine demokratische Verfassung nicht den Durchmarsch eines einzelnen Leaders erlaubt, stünde der Propagierung ihres Charismas entgegen. Dies ist ein gefährliches Spiel mit dem personalisierten Wahlkampf, denn er schürt die Sehnsucht nach einem wirklichen Führer, der dem `demokratischen Palaver` dereinst ein Ende bereiten könnte.
UB
Quellenangaben:
1Vgl.: http://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20080728_OTS0028 (aufgesucht am 25.9.09)
2Vgl.: http://zukunft-braucht-erinnerung.de/zweiter-weltkrieg/achsenmaechte/464.html (25.9.09)
3LZS-Parteifreund Hugo Celmi?š ist nicht zu verwechseln mit Gustavs Celmi?š. Letzterer war Donnerkreuzler jener Zeit und wurde von Ulmanis verhaftet.
4zitiert nach: U. Sili?š u.a.; Latvija Likte?a gait?s 1918-1991, Riga 2006, S. 93
5Vgl. Daina Bleiere u.a..; Latvijas V?sture 20. gadsimts, Riga, 2005, S. 144
6zit. nach Sili?š, ebd., S. 99
7Vgl.diese und folgende biographische Angaben: http://www.historia.lv/alfabets/U/ul/ulmanis/ulmanis.htm (25.9.09)
8Vgl. Daina Bleiere u.a; a.a.O., S. 146
9Vgl. ebd., S. 158f.
10Alle Zitate und wiedergegebenen Ansichten von M?ris Brants stammen aus seinem Essay „Celies, vadoni, es esmu vad?ms!“ auf der Webseite: http://www.politika.lv/temas/pilsoniska_sabiedriba/17600/ (26.9.09)
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