Latvieðu Centrs Minsterç

   

Rigenser straften aggressiven Wahlkampf der Nationalkonservativen ab
08.06.2009


Die lettischen Bürger wählten am 6. Juni 2009 die neun Abgeordneten für das Europaparlament und ihre VertreterTB-Wahlplakat 2009 in den Stadt- und Gemeindeparlamenten. Die Öffentlichkeit interessierte sich besonders für die Frage, wer in Zukunft die Hauptstadt Riga regiert. Hier versuchten die Spitzenkandidaten mit zahlreichen Wahlplakaten, sich als Bürgermeister zu empfehlen. Nach Auszählung fast aller Wahlbezirke wurde Saska?as centrs (SC; Zentrum der Eintracht) mit 33,40 Prozent stärkste Partei, gefolgt von der Pilsonisk? savien?ba (PS; Bürgerliche Union) mit 18,82 Prozent und dem Parteienbündnis Latvijas Pirm? partija / Latvijas Ce?š (LPP/LC; Lettlands Erste Partei / Lettlands Weg) mit 15,13 Prozent (Stand: 8. Juni).
"Nicht-Letten - 57,75%, Letten - 42,25%". Die Zahlen auf diesem Wahlplakat der Liste Für Vaterland und Freiheit / Bewegung für die nationale Unabhängigkeit Lettlands schlüsseln die Einwohner Rigas ethnisch auf.
Photo: Udo Bongartz
Für die vier Parteien der amtierenden Koalition im Rigaer Stadrat fiel der Urnengang dafür umso desaströser aus. Drei von ihnen blieben glatt unter der Fünf-Prozent-Hürde: Neben der skandalumwitterten Latvijas Soci?ldemokr?tisk? str?dnieku partija (LSDSP; Lettlands Sozialdemokratische Arbeiterpartei) und der gleichfalls umstrittenen Tautas partija (TP; Volkspartei) bekam auch die Liste T?vzemei un br?v?bai / Latvijas nacion?l?s neatkar?bas kust?ba (TB/LNNK; Für Vaterland und Freiheit / Bewegung für die nationale Unabhängigkeit Lettlands) den Stuhl vor die Tür gesetzt. Vor allem die nationalkonservative TB des derzeitigen Bürgermeisters J?nis Birks hatte einen aggressiven Wahlkampf gegen die russischen Mitbürger geführt und konnte damit nur 3,38 Prozent der Wähler überzeugen.

So sahen die Fernsehzuschauer in den letzten Wochen einen Zeichentrickfilm der besonderen Art: In einer idyllischen Landschaft grast eine Kuh namens “Latvija” (“Lettland”). Plötzlich überfallen lettische Politiker sie von allen Seiten und balgen sich um ihren Euter. Ain?rs Šlesers, in Riga Spitzenkandidat der Ersten Partei, versucht besonders gierig, das Tier zu melken. Schließlich fallen alle übereinander her, um sich niederzumetzeln. Das russische Bauernpärchen, das bislang dem Treiben zuschaut, nimmt “Latvija” zuletzt in Besitz. Mit diesem TV-Spot und anderen aggressiven Werbebotschaften versuchte die rechte TB, national gesinnte Letten hinter sich zu scharen. In der Düna-Metropole zeigten die Wähler allerdings wenig Sympathie für diese nationalkonservative Propaganda.

A. Šlesers stellte am Wahlabend befriedigt fest, dass die Losung “Letten, duckt euch nicht! Der Russe kommt!” die Wahl verloren habe. Die Sympathien des Ex-Verkehrsministers und umstrittenen Oligarchen für die russischsprachige Minderheit sind nicht uneigennützig: Seine christlich-homophobe Erste Partei, im Volksmund auch “Pfaffenpartei” genannt, möchte mit dem gemäßigt linken Zentrum der Eintracht koalieren, das die Interessen des russischsprachigen Bevölkerungsteils vertritt.
Šlesers-Wahlplakat 2009
"Alle schmeißen mit Versprechungen um sich. Hinter mir
stehen meine Taten" wahlkämpft Ex-Verkehrsminister Ain?rs Šlesers. Photo: Udo Bongartz


A. Šlesers verfügt sogar über einige kommunalpolitische Erfahrungen: 2005 war er  in eine Affäre um Stimmenkauf im Stadtrat des Seebades J?rmala verwickelt und mußte daraufhin im Frühjahr 2006 sein Ministeramt abgeben. Als echtes politisches Stehaufmännchen konnte er aber bereits einige Monate später die Koalitionsarithmetik für sich nutzen und wieder den Chefsessel im Verkehrsressort beziehen. Erst als Valdis Dombrovskis im März dieses Jahres neuer Regierungschef wurde, musste A. Šlesers endgültig das Kabinett verlassen. Nun inszenierte er sich auf zahlreichen Wahlplakaten als Tatmensch, der die Rigenser aus der Wirtschaftskrise führen will. Ob sich nun seine Hoffnungen erfüllen, von der doppelt so großen SC-Fraktion zum Bürgermeister gekürt zu werden, müssen die Verhandlungen zeigen. Auch eine Koalition der Ersten Partei mit den konservativen Parteien Bürgerliche Union und Jaunais Laiks (JL; Neues Zeitalter), die ebenfalls mit über 10 Prozent der Stimmen im Stadtrat vertreten ist, wäre denkbar.

Für politische Beobachter brachten die Kommunalwahlen kaum Neues: 782 108 Wähler, 52,46 Prozent der Wählberechtigten gingen an die Wahlurnen. Das Portal diena.lv analysierte am 8. Juni, die eigentliche Überraschung liege darin, dass es A. Šlesers und dem smarten Vorsitzender des Eintracht-Zentrums Nils Ušakovs zum ersten Mal seit der Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit gelungen sei, die unsichtbare ethnische Grenze zu überschreiten, die die Gesellschaft in Lettland noch immer durchzieht. So hatte A. Šlesers im Wahlkampf auffalllend massiv in den russischsprachigen Medien für sich geworben. Umgekehrt dürfte die SC als bisherige Oppositionspartei von der Proteststimmung auch im lettischen Bevölkerungsteil profitiert haben.

Schließlich, so die Wahlanalysten, habe angesichts der anhaltenden Finanz- und Wirtschaftskrise die “nationale Karte” einfach nicht gezogen. Vor allem die extremen Parteien in beiden ethnischen Lagern hätten sich der Einsicht verschlossen, dass die von Lohnkürzungen und Stellenabbau gebeutelten Einwohnern die sogenannte nationale Frage nicht als Top-Thema auf ihrer Agenda sehen, und seien dementsprechend draußen im Regen geblieben.

In Liep?ja und J?rmala bilden Regionalparteien die stärksten Fraktionen. In der westlettischen Hafenstadt Ventspils ereignete sich ein kleines politisches Erdbeben – die “Taschenpartei” von Bürgermeister Aivars Lembergs mußte nach Jahren nahezu uneingeschränkter Alleinherrschaft zum ersten Mal größere Verluste hinnehmen. Anscheinend war den Einwohnern jetzt doch nicht mehr so ganz geheuer, dass A. Lembergs sich seit jüngstem wegen verschiedener Korruptionsvorwürfe vor Gericht verantworten muß. Das Zentrum der Eintracht erzielte auch im östlichen Landesteil Latgale Wahlerfolge, hier dürfte der vergleichsweise hohe russischsprachige Bevölkerungsanteil eine Rolle gespielt haben. Die angeschlagene Volkspartei konnte sich in Valmiera und C?sis behaupten.
Kristovskis-Wahlplakat 2009
Mit rollendem "RRR" droht Ex-Verteidigungsminister ?irts Valdis Kristovskis (Bürgerliche Union) für den Fall
seiner Wahl den Bürokraten Rigas "Armee-Disziplin" an. Photo: Udo Bongartz


Umfragen zur Europawahl zeigen PS und SC vorn. Auch Roberts Z?le, der gewiefte TB-Vorsitzende, dürfte den Wiedereinzug ins Straßburger Parlament schaffen. Die Partei des Premiers V. Dombrovskis, Neues Zeitalter, wies im Europawahlkampf darauf hin, dass deutsche Bauern sechs mal so hoch von der Europäischen Union subventioniert würden wie lettische und sah darin eine Wettbewerbsverzerrung. Auch die Pläne einer deutsch-russischen Ostsee-Pipeline wurden im Europawahlkampf kritisch erwähnt. Die lettischen Politiker bezweifeln, ob ihre deutschen Kollegen ein ernsthaftes Interesse an einer gemeinsamen europäischen Energiepolitik haben.
Alfr?ds Rubiks
Verurteilter Umstürzler - geläuterter Europa-Demokrat? Ex-KP-Chef Alfr?ds Rubiks. Photo: Wikipedia

Eine interessante Bereicherung des Europaparlaments könnte aus den Reihen des Eintracht-Zentrums kommen – kein Geringerer als Alfr?ds Rubiks, der in der damaligen Lettischen SSR von 1984 bis 1990 so etwas wie der Bürgermeister von Riga war. In seine Amtszeit fielen auch die Planungen für ein Projekt, über das so mancher staugeplagte Einwohner heute ganz anders denkt – es ging damals um eine U-Bahn für die lettische Hauptstadt. Das Vorhaben sollte sich jedoch als “Geburtshelfer” für die Umweltschutz- und Unabhängigkeitsbewegung in der Baltenrepublik erweisen, nach großen Protestaktionen wurde es eingestellt. Als Parteichef der lettischen Kommunisten stellte sich A. Rubiks in der “Singenden Revolution” von 1990/1991 auf die Seite der Sowjets und wurde 1995 wegen Aktivitäten zum Sturz der Staatsmacht zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Eine vorzeitige Haftentlassung erfolgte 1997.

-Udo Bongartz, Mitarbeit OJR-



 
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