Lettland vor der Wahl (2): Vienotiba - Vereint unter`m Regenschirm
29.09.2010
Die öffentlich-rechtliche TV-Nachrichtensendung
Panorama publizierte am Dienstag die aktuelle Wahl-Umfrage des Instituts
Latvijas faktu. Verglichen mit August legen die beiden größten Fraktionen,
Saska?as centrs (SC) und
Vienot?ba, weiter zu. Das
SC kommt derzeit auf 21,1 Prozent, das Parteienbündnis
Vienot?ba (Einigkeit) auf 19,2 Prozent. Damit sind beide Fraktionen auf dem Weg, Volksparteien zu werden, allerdings repräsentiert das
SC vorwiegend Russischstämmige,
Vienot?ba hingegen meistens Letten. Beide Lager brauchen Koalitionspartner, um an die Regierung zu kommen. Dafür stehen kleinere Fraktionen des lettischen Lagers zur Verfügung, beispielsweise die
Za?o un zemnieku savien?ba (ZZS, Union der Grünen und der Bauern), das die `goldene Aktie` innehaben könnte. Das heißt auf Deutsch: Die Bauern, die dem Oligarchen Aivars Lembergs nahestehen, könnten das Zünglein an der Waage bilden. Sie kommen derzeit auf 9,9 Prozent. Ebenso werden wahrscheinlich die
Businessfraktion
Par labu Latviju mit 7,9 Prozent und das russophobe Bündnis mit dem Bandwurmnamen
Visu Latvijai-T?vzemei un br?v?bai/LNNK (VL-TB/LNNK, Alles für Lettland – Für Vaterland und Freiheit/ Lettlands Nationale Unabhängigkeitsbewegung) mit 5,2 Prozent vertreten sein. Die russisch orientierte Vereinigung
Par Cilv?ka Ties?b?m Vienot? Latvij? (Für Menschenrechte im vereinten Lettland, PCTVL) könnte scheitern. Es liegt gerade bei 3,4 Prozent, allerdings werden in den lettischen Umfragen auch Nichtwähler prozentual erfasst. Durch die Zusammenschlüsse bisheriger Parteien zu größeren Fraktionen dürfte die 10.
Saeima deutlich übersichtlicher werden. Das
SC war Thema des ersten Teils des Wahl-Vorberichts, im zweiten Teil werden nun die Ziele und Spitzenkandidaten des neuen Parteienbündnisses
Vienot?ba vorgestellt.
Am 2. Oktober 2010 wählen die Letten die 10. Saeima. Foto: UB
Dombrovskis - der brutalstmögliche Sparer
Das Bündnis Vienot?ba vereint seit Anfang des Jahres drei Parteien: Jaunais laiks (JL, Neue Zeit), Pilsonisk? savien?ba (PS, Bürgerunion) und Sabiedr?ba citai politikai (SCP, Gesellschaft für eine andere Politik). Sie stützen die amtierende Regierung des JL-Premiers Valdis Dombrovskis. Sein Kabinett ließ sich vom Internationalen Währungsfonds (IWF) auf einen harten Sparkurs verpflichten. Die Regierung schmälerte die Einkommen der Rentner und staatlichen Angestellten empfindlich und schloss Schulen und Krankenhäuser. Lettland hat jetzt gemeinsam mit Spanien die höchste Erwerbslosenquote der EU. Doch Dombrovskis weist auf Anzeichen konjunktureller Erholung und verkündete gegenüber der Süddeutschen Zeitung am 3.5.10 das Credo von der Alternativlosigkeit seiner Politik: “Es gibt - zumal, wenn man [wie Griechenland] in der Eurozone ist - keine Alternative zum Sparen, wenn man seine Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen will. Das sollte sehr schnell und brutal und nicht zögerlich umgesetzt werden.”
Dabei ließen die IWF-Vertreter, die mit Dombrovskis` Kabinett über die Sparpolitik verhandelten, durchaus Alternativen zu. Die internationalen Ratgeber hätten eine progressive Einkommenssteuer akzeptiert, die die reicheren Schichten stärker belastet und mehr Geld in die leeren Staatskassen gebracht hätte. Doch der brutalstmögliche Sparer betrachtet solche Vorschläge als Einmischung von außen: “Hilfe und Rat von außen sind wichtig, aber es wird kompliziert, wenn sich diese Hilfe auf Details des Managements der Krise bezieht, wenn etwa unser Steuersystem mit einem Einheitssteuersatz in Frage gestellt wird. Experten können gute Ratschläge geben, aber die Entscheidungen müssen im betroffenen Land getroffen werden.” Sein Finanzminister und Parteifreund Einars Repše behauptete in einem Fernsehinterview, dass eine progressive Einkommenssteuer einfach nicht zur lettischen Gesellschaft passe.
Dombrovskis erfreut sich in Teilen der Bevölkerung einer gewissen Beliebtheit. Immerhin hat er das Amt in scheinbar aussichtsloser Lage übernommen. Neulich beschimpfte ihn eine Radiohörerin im Bürgergespräch als “Buchhalter”. Doch dies macht ihn unter so manchen Sprücheklopfern in der lettischen Politik eher sympathisch. Dombrovskis` Regierung brachte Stabilität, doch diese bedeutet für die Armen verschärft Not und Elend.
Wahlplakat der Vienotiba in der Rigaer Innenstadt: "Dombrovskis muss die Arbeit fortsetzen", Foto: UB
Gegen Oligarchen
Wirtschafts- und sozialpolitisch boten JL-Politiker bislang kaum eine Alternative zum neoliberalen Kurs der Oligarchenparteien. Sandris To?s beschrieb in der Tageszeitung Neatkar?g? R?ta Av?ze vom 12.8.2002 weitsichtig die Widersprüche zwischen dem damaligen linken Wahl- und dem rechten Grundsatzprogramm. Tatsächlich fühlten sich die Wähler getäuscht, als der vormalige Chef der lettischen Zentralbank, Repše, wenige Monate später die Macht übernahm. Im Wahlkampf hatte die JL mit besserer Sozialpolitik für sich geworben, doch an der Regierung widmete sie sich der Haushaltssanierung. Repše und seine Minister ignorierten die gemachten Versprechungen. Vor der Wahl war von kostenloser Gesundheitsversorgung oder die Ausbildung der Schüler und Studenten unabhängig vom Portemonnaie der Eltern die Rede gewesen. Sympathien hingegen ernteten JL-Politiker für ihren Kampf gegen die Korruption. Repše ging gegen Steuerhinterziehung vor und feuerte eine Reihe von Spitzenbeamten, bis seine Koalition 2004 zerbrach.
Später regierten JL-Minister zeitweise im Kabinett von Aigars Kalv?tis mit. Seine sogenannte Tautas Partija (Volkspartei) hatte Oligarch Andris Š??le gegründet. Der zweite Oligarch, Ain?rs Šlesers, war Kalv?tis` Verkehrsminister und auch die Bauernfraktion ZZS war mit von der Partie. Die Bauern fühlen sich dem dritten Oligarchen, Aivars Lembergs, verpflichtet. Repše trat als Finanzminister zurück, nachdem ihm eine private Finanzaffäre angelastet wurde. Als in Jurmala zwei Unternehmer versuchten, mit Bestechungsgeldern die Wahl einer JL-Politikerin zur Bürgermeisterin zu verhindern, verließen auch die übrigen JL-Minister die Regierung. Mitgeschnittene Telefonate belegten, dass sich die Unternehmer mit Š??le, Šlesers und anderen Politikern abgesprochen hatten.
Der Streit zwischen der JL und den Oligarchenpolitikern verschärfte sich im Herbst 2007. Damals versammelten sich tausende Demonstranten in der Rigaer Innenstadt, um gegen die drohende Entlassung Aleksejs Loskutovs zu demonstrieren. Er hatte recht erfolgreich die Antikorruptionsbehörde KNAB geleitet. Seine Mitarbeiter hatten u.a. geprüft, ob die Finanzierung der Regierungsparteien gesetzeswidrig war. Auf dem Rigaer Domplatz und vor der Saeima versammelten sich in diesem regnerischen Herbst kritische Bürger, allen voran Oppositionspolitiker und Journalisten, um gegen staatliche Übergriffe zu protestieren. Repše und andere JL-Größen mischten sich unter die Regenschirme. Wirtschaftsminister Aigars Štokenbergs verkrachte sich zu dieser Zeit mit seinem Regierungschef und verließ Amt und Partei.
Millionär Štokenbergs gründete dann die SCP, die eine linksliberale lettische Alternative bieten wollte. Der Jurist und Volkswirt setzt sich für einen Sozialstaat nach skandinavischem Vorbild ein und plädiert für höhere Steuern. Doch seine Partei hatte bei den EU- und Kommunalwahlen des letzten Jahres keinen Erfolg. Die etwa 800 Mitglieder schlüpfen nun unter das sichere Dach der Vienot?ba.
Vienotiba-Plakat: Das Parteienbündnis wirbt mit Aufschwung und Wachstumszahlen: "Industrielle Produktion 10 Prozent, Export 23 Prozent". Doch die leichte konjunkturelle Erholung erfolgt nach einem tiefen BIP-Rückgang über 18 Prozent, Foto: UB
Volkspartei der rechten oder linken Mitte?
Für Dombrovskis ist die Richtung klar: Zwar gebe es in der Vienot?ba unterschiedliche politische Kräfte, doch insgesamt ergebe dies einen politischen Standpunkt leicht rechts von der Mitte. Doch Štokenbergs Einfluss hat offenbar programmatische Folgen. Das Vienot?ba-Programm sieht u.a. Steuererhöhungen zur Bekämpfung der Finanzkrise vor. Die Programmschreiber proben die sozialpolitische Kehrtwende. Unter anderem solle jedem eine qualitätsvolle medizinische Versorgung zugänglich sein – in den letzten Jahren sind gerade Krankenhäuser Objekt brutalstmöglicher Sparpolitik gewesen und Arme ohne Krankenversicherung können sich keinen Arztbesuch leisten. Insgesamt planen die Vienot?ba-Politiker einen besseren Sozialstaat, der solidarisch mit Steuern und Abgaben zu finanzieren ist. Sie wollen eine "sozial verantwortliche Marktwirtschaft" und bekennen sich zur Toleranz gegenüber ethnischen Minderheiten. Doch der Kommentator der Webseite politika.lv vermisst Konkretes hinter den schönen Phrasen. An den Gesetzen zur Erlangung der Staatsbürgerschaft will das lettisch orientierte Bündnis nichts ändern, doch verlangt es "Änderungen im Verhalten und in den Beziehungen" zwischen den ethnischen Gruppen.
Vienotiba beteiligt sich an der Propagandaschlacht um die Rigaer Briefkästen, Foto: UB
Koalitionspoker
Derzeit ist kaum absehbar, wer mit wem regieren wird. Denkbar wäre beispielsweise eine Koalition des Wahlgewinners SC mit der zweitstärksten Fraktion Vienot?ba. Doch würde Dombrovskis in diesem Falle auf den Chefsessel im Kabinett verzichten? Politologe Jur?is Liepnieks glaubt, dass die kleine regierungserfahrene ZZS Zünglein an der Waage sein könne. Überhaupt hält er eine Dreierkoalition für stabiler. Machtansprüche stellt aber auch Rigas PLL-Vizebürgermeister und Oligarch Ain?rs Šlesers, der dort seit über einem Jahr an der Seite des SC regiert. Vor der Wahl ist für den Stimmbürger nicht abzusehen, welche Regierungskoalition sich für welchen Premier entscheiden wird. Die Tageszeitung Neatkar?g? R?ta Av?ze, die als Sprachrohr des Oligarchen Aivars Lembergs gilt, schürt gerade Spekulationen. Die US-Botschaft sei an einer Koalition von SC und Vienot?ba interessiert. Demnach haben Obamas Diplomaten mit dem IWF-Experten Janis Platais sogar schon einen Regierungschef für Lettland ausgewählt. Solche Gerüchte nähren paranoide Fantasien in jegliche Richtung. Fest steht nur, die nächste Regierung wird abgeschirmt von der Öffentlichkeit in irgendwelchen Hinterzimmern ausgekungelt.