Lettland vor der Wahl (1): Saskanas Centrs, die sanften Russenletten
26.09.2010
“Die Plakate kleben an den Mauern –
is ja janz ejal!
mit dem Schmus für Städter und für Bauern:
»Zwölfte Stunde!« – »Soll die Schande dauern?«
Is ja janz ejal!“
Kurt Tucholsky
So mancher lettische Wähler dürfte diese satirisch formulierte Gleichgültigkeit teilen, mögen Politiker noch so sehr `Richtungswahlen` oder gar `Schicksalswahlen` beschwören. Bei den Parlamentswahlen von 2006 bequemten sich gerade mal 60 Prozent der lettischen Wahlberechtigten an die Urnen. Parteien- und Politikverdrossenheit sind populär. Bereits ein Jahr nach der Wahl zur 9. Saeima forderten Demonstranten unter ihren Regenschirmen, dass der Staatspräsident die Abgeordneten wieder entlässt. Doch dieser beließ die Politiker auf ihren Posten. Seitdem wechselte zweimal der Regierungschef und von der schwindeligen Höhe der wachstumsheischenden Blasenökonomie stürzten der Staat und seine Bewohner in Schulden, Erwerbslosigkeit, Armut, mal inflationär und mal deflationär. Heute ist die Baltenrepublik von den Krediten des Internationalen Währungsfonds abhängig, dessen Auflagen die liberalkonservative Regierung mit einem harten Sparkurs erfüllt. Die LP präsentiert am Vorabend der Saeima-Wahl am 2. Oktober die Ziele und die Spitzenkandidaten der beiden voraussichtlich größten Fraktionen: Die Parteienbündnisse Saska?as centrs und Vienotïba dürften in der 10. Saeima maßgeblich mitwirken, als größte Regierungs- oder größte Oppositionsfraktion. Im ersten Teil befasst sich die LP mit den Zielen des Saska?as centrs (Zentrum der Eintracht, SC), mit dem laut Umfrage im August 17 Prozent der Wähler sympathisierten. Bleibt es dabei, wird das SC, das bislang 17 Sitze einnimmt, stärkste Kraft und könnte seine Abgeordnetenzahl fast verdoppeln.
Am 2.10.2010 wählen die Letten die 10. Saeima, Foto: UB
Im Schafspelz zu den lettischen Lämmern?
Das Zentrum entstand 2005 als Zusammenschluss dreier Parteien, zwei von ihnen waren Abtrünnige des Bündnisses Par Cilv?ka Ties?b?m Vienot? Latvij? (Für Menschenrechte im vereinten Lettland, PCTVL), das seitdem zu einer Partei geschrumpft ist, die provokant die Interessen der russischsprachigen Minderheit vertritt. So fordern PCTVL-Parlamentarier Russisch als zweite Amtssprache und treffen damit den Nerv ihrer lettischen Mitbürger: Die Bevölkerungsmehrheit, die in der Sowjetzeit die russische Leitkultur ertragen musste, fürchtet mit dieser Forderung die Rückkehr zu den alten Zeiten, als russischsprachige Einwanderer das Lettische nicht ernstnahmen. Auch historisch opponiert die PCTVL gegen die lettische Sicht. Ihr Abgeordneter Nikolajs Kabanovs behauptete 2006, das Rigaer Okkupationsmuseum, das die Gräuel der Sowjetzeit dokumentiert, sei "ein lettisches Disneyland".
SC-Spitzenkandidat J?nis Urbanovi?s: Keine Subtexte über böse Okkupanten
SC-Politiker sehen sich als sozialdemokratische Alternative zum Neoliberalismus. Im Programm heißt es: “Die Finanz- und Wirtschaftskrise verdeutlichte die Schädlichkeit des neoliberalen Kapitalismus, denn er hat Armut, sinkende Sozialleistungen und wirtschaftliche Störungen verursacht, vor allem in Staaten mit kleinen Binnenmärkten. Viele Jahre regierten rechte Parteien Lettland, welche der hypnotischen Macht neoliberaler Ratgeber unterstanden. Ihre Politik führte dazu, dass die Krise Lettland schwerer traf als irgendein anderes Land in Europa. Es ist offensichtlich, dass die Rechten nicht imstande sind, sie zu bewältigen, lediglich zu beschließen, den Staat zu verschulden.”
Das SC beabsichtigt hingegen, Politik für einen Staat zu betreiben, der sich sozial verantwortlich zeigt. Auch die Wirtschaft soll sich an sozialen Prinzipien orientieren. Konkreteres fordern die SC-Sozis in den Punkten zur Finanz- und Wirtschaftspolitik. Sie wollen die Steuerlast von der Produktion auf natürliche und unproduktive Ressourcen verlagern. Einkommens- und Mehrwertsteuer würden verringert, die Besteuerung von Grundstücken, je nach Größe und Nutzung, erhöht. Zudem fordern die Eintrachtspolitiker die progressive Einkommenssteuer und höhere Besteuerung von Luxusgütern.Der Kommentator der unabhängigen Webseite politika.lv wertet das SC als “Champion” unter den lettischen Parteien, was die langfristigen wirtschaftspolitischen Ziele anbelangt. Diese erinnern ihn an die Entwicklung in Südkorea in den fünfziger bis siebziger Jahren. Ähnlich wie der südostasiatische Tiger wolle die gemäßigte lettische Linke die industrielle Entwicklung beschleunigen und dabei bestimmte Branchen bevorzugen, eine staatliche Entwicklungsbank gründen, die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland und Weißrussland erneuern. Doch der Politika-Redakteur warnt auch, dass sich das südkoreanische Wirtschaftswunder unter den Bedingungen einer Diktatur vollzogen habe. Trotzdem lobt er die langfristige Perspektive: “Und dennoch mindern diese Einwände nicht das beträchtliche Faktum, dass das SC eine konkrete Aussicht auf diesem Feld hat.”
So richtig antikapitalistisch wird das SC kaum werden
Gehört auch J?nis Urbanovi?s zu den “acht Onkeln” des Polit-Establishments, die nach Ansicht des Regisseurs Alvis Hermanis hinter der demokratischen Fassade auf Fluren und in Hinterzimmern die Politik bestimmen? Beweise gibt es dafür nicht, Andeutungen aber schon. Die Wochenzeitschrift ir liefert dafür in ihrer Stichwort-Liste “Was man über das SC wissen muss” einen Hinweis auf Urbanovi?s` Beziehungen zum Oligarchen von Ventspils, Aivars Lembergs. 2007 erläuterte Unternehmer J?lijs Kr?mi?š in der Sendung De Facto, wie der Bürgermeister der Ölhafenmetropole versuche, die Entwicklung des Rigaer Hafens zu bremsen: „Urbanovi?s J?nis fuhr von Ventspils weg, nahm 30.000 mit, steckte sie irgendwelchen unabhängigen Abgeordneten und zwei Einträchtlern zu, ich weiß selbst, dass es jenen zukam, die dagegen stimmten.“
UB
Atpakaï