Lettland: Russisch-Referendum in der zweiten Runde erfolgreich – Nun wird das Parlament entscheiden
04.12.2011
183.046 Bürger unterschrieben im November das Referendum für Russisch als zweite Staatssprache. Die Zentrale Wahlkommission teilte dieses vorläufige End-Ergebnis auf ihrer Webseite mit. Mehr als zehn Prozent der Wahlberechtigten befürworten die Änderung jener Paragraphen in der lettischen Verfassung, die Lettisch als einzige amtliche Sprache des Landes festlegen. Damit hat die Initiative, die sich auf Lettisch Dzimt? Valoda (Muttersprache) nennt, die zweite Hürde genommen. In den nächsten Wochen prüfen die Beamten die abgegebenen Unterschriften. Staatspräsident Andris B?rzi?š ist dazu verpflichtet, diesen Antrag auf Verfassungsänderung den Saeima-Abgeordneten vorzulegen. Dies wird voraussichtlich im kommenden Frühjahr geschehen. Falls er nicht mit Zweidrittel-Mehrheit verabschiedet wird, kommt es zur Volksabstimmung. Weder im Parlament noch in der Bevölkerung dürfte die Zweitsprache Russisch eine Mehrheit finden. Derzeit debattieren Politiker und Juristen darüber, ob Abgeordnete überhaupt an der Unterschriftenaktion teilnehmen durften. Ihr Eid verpflichtet sie nämlich, Lettisch als einzige Staatssprache zu wahren.
Auf lettischen Straßenschildern wurde das Russische getilgt, Foto: A. Kuzmins auf Wikimedia Commons
Die meisten Unterschriften in Riga und Daugavpils
Die Wahlkommission musste im November in allen Bezirken des Landes und in 39 Botschaften im Ausland lettischen Staatsbürgern ermöglichen, das Referendum zu unterschreiben. Bereits im Sommer hatte Initiator Wladimir Linderman 12.533 Unterschriften gesammelt. Das war die Voraussetzung für die zweite Runde unter staatlicher Aufsicht. Die höchste Stimmzahl erreichte Dzimt? Valoda erwartungsgemäß in Riga (89.481). Die sowjetische Migrationspolitik bewirkte bis 1990 den Zuzug vieler Russischsprachiger in die Hauptstadt. Der Anteil russisch- und lettischsprachiger Rigenser ist heutzutage etwa gleich groß. Das ostlettische Daugavpils (deutschbaltisch: Dünaburg) zählt 27.857 Stimmen. In der zweitgrößten Stadt des Landes, die noch etwas mehr als 100.000 Einwohner zählt, sind die Bürger russischer Muttersprache traditionell in der Mehrheit. So überrascht es nicht, dass fast ein Drittel der Dünaburger für Russisch votierte. Der kurländische Wahlbezirk Alsunga (deutschbaltisch: Alswangen) befindet sich am anderen Ende des Stimmenrankings: Dort hat niemand die Liste unterschrieben. Die lettische Botschaft in London verzeichnet mit der Zahl 493 die meisten Unterschriften. Auf dem zweiten Platz folgt Dublin mit 282. Berlin rangiert mit 15 unter ferner liefen.
Parlamentsvorsitzende Solvita ?bolti?a, Foto: Saeima
Streit um den SC-Abgeordneten Nikolajs Kabanovs
Derweil debattieren Politiker und Juristen über die Rechtmäßigkeit. Nikolajs Kabanovs, Abgeordneter der Fraktion Saska?as Centrs/ Zentrum der Eintracht (SC), muss sich wegen seiner Teilnahme am Referendum Kritik gefallen lassen. Damit habe er gegen den Eid verstoßen, den er als Abgeordneter des lettischen Parlaments leisten musste. Dieser beinhaltet unter anderem, die „lettische Sprache als einzige Staatssprache“ zu festigen. Parlamentspräsidentin Solvita ?bolti?a kritisierte in einem LTV1-Interview vom 28.11.11 ihren Kollegen scharf. Er habe den Eid gebrochen und so “meinem Volk“ die Unwahrheit gesagt. Dennoch schloss sie juristische Folgen für Kabanovs aus. Die Frage, ob das Russisch-Referendum überhaupt rechtmäßig war und Abgeordnete daran teilnehmen durften, werde die parlamentarische Ethik-Kommission beschäftigen. Auf der Webseite ir.lv bezweifelte ?bolti?a am 1.12.11, ob die Saeima-Mitglieder die Sprachfrage zur Debatte stellen dürfen. Doch nun seien die Unterschriften geleistet und man müsse nun sehen, wie es weitergehe. Die Juristen debattierten, ob die Parlamentarier berechtigt sind, die ersten Paragraphen der lettischen Verfassung zu ändern. Für die Volksvertreter sei nun eine „interessante Situation“ entstanden. Einerseits hätten sie den Eid geleistet, Lettisch als einzige Sprache zu stärken, andererseits richte sich dieses Gesetzgebungsprojekt vollständig dagegen.
Die ehemalige Chefredakteurin der Tageszeitung "Diena", Sarm?te ?lerte, war vor der Neuwahl des Parlaments Kulturministerin. Foto: http://politik.in2pic.com auf Wikimedia Commons
Parteien und ethnopolitischer Populismus
Aleksandra Gluhiha schreibt für die Rigaer Tageszeitung Telegraf, die in russischer Sprache erscheint. Sie gilt als gemäßigtes Blatt, das eine vermittelnde Position zwischen den ethnischen Blöcken einnimmt. Für politika.lv schrieb Gluhiha einen Beitrag auf Lettisch. Sie bemängelt die Politik der Saeima-Fraktionen. Keine zeige ein wirkliches Interesse, in der Minderheitenpolitik voranzukommen. Die Abgeordneten des gerade gewählten Parlaments hätten sich entschieden, über unbequeme ethnische Fragen zu schweigen. Das stärke die radikalen Kräfte. Die Kritik der Journalistin trifft sämtliche Parteien. Diese sind wie die Bevölkerung gespalten: Die einen vertreten lettische Standpunkte, die anderen russische. Politiker bedienten einseitig die Interessen ihrer ethnischen Wählergruppe. Lediglich Zatlers` Reform Partei (ZRP) habe im Wahlkampf den Versuch gemacht, die Gräben zu überwinden. Zunächst zeigte sich die ZRP bereit, mit dem russisch geprägten SC eine Koalition zu bilden. Aber die eigene Basis mahnte die Unterhändler, die Verhandlungen abzubrechen. Die SC-Politiker hatten in den letzten Jahren viele Kröten geschluckt, um an die Macht zu kommen. Sie forderten offiziell nicht mehr, Russisch zur Staatssprache zu erklären. Zudem setzten sie sich nicht mehr dafür ein, Staatenlose zur Kommunalwahl zuzulassen. Doch ihr Vorschlag, ethnische Streitfragen für drei Jahre zu vertagen, sei sowohl in der eigenen Wählergruppe als auch beim politischen Gegner kühl aufgenommen worden. Die Regierungsfraktion Vienot?ba des Regierungschefs Valdis Dombrovskis halte sich in solchen Debatten zurück. Vor einem Jahr formulierte seine Kulturministerin Sarm?te ?lerte ein Integrationsprogramm. Doch dies glich einem Forderungskatalog an die russischsprachige Minderheit. ?lerte erklärte das Geschichtsverständnis der russischstämmigen Mitbürger für traumatisiert. Sie appellierte, die lettische Geschichtsauffassung, die demzufolge die objektive sein muss, zu übernehmen. Ein solches Diktat konnte keinen Erfolg haben. ?lerte wurde nicht mehr ins Parlament gewählt, inzwischen hat eine Nationalkonservative ihr Ministerium übernommen. Von ihr sind kaum neue Anregungen in dieser Sache zu erwarten. Nur die radikalen politischen Lager beider Seiten spielten nach Ansicht Gluhihas mit offenen Karten. Das nationalkonservative Parteienbündnis Visu Latvijai!-Alles für Lettland!TB/LNNK, das bei der letzten Wahl stark zulegte, propagiere offen die „freiwillige Deportation“, die Abschaffung russischer Schulen und das Immigrationsverbot für Arbeitnehmer aus den GUS-Staaten. Der Widerpart der lettischen Rechten, die russisch orientierte Partei Par cilv?ka ties?b?m vienot? Latvij?/ Für Menschenrechte in einem vereinten Lettland (PCTVL), habe mit ökonomischen Themen keinen Erfolg gehabt. Die ehemalige Saeima-Fraktion ist nun eine Splitterpartei. Nun kehre sie zur utopistischen Russophilie zurück. Das beginne mit Russisch als zweite Staatssprache und ende mit der automatischen Erteilung der lettischen Staatsbürgerschaft für alle Staatenlose.
Ältere Gedenktafeln sind häufig in beiden Sprachen abgefasst. In der Festung von Daugavpils erinnert dieser Text an das Schicksal eines russischen Lyrikers deutscher Abstammung, Wilhelm Küchelbecker. Der Goethe-Verehrer nahm am Dekabristen-Aufstand teil. Er wurde verhaftet und zum Tode verurteilt, dann zur Festungshaft begnadigt. Die Inschrift lautet: "Hier wurde vom 16. Oktober 1827 bis zum 15. April 1831 auf Beschluss zaristischer Herrschaft der Dichter und Dekabrist Wilhelm Küchelbecker (1797-1846) eingesperrt." Foto: Alma Pater auf Wikimedia Commons
Letztlich erfolglos
Die Initiative Dzimt? Valoda setzte das Thema Integration wieder auf die Tagesordnung. Trotz der ersten Erfolge wird ihr Referendum voraussichtlich scheitern. Wenn die lettische Parlamentsmehrheit dem Russischen den Status einer zweiten Staatssprache verweigert, wird die Bevölkerung endgültig entscheiden. 771.350 Stimmen wären nötig, um die Verfassung zu ändern. Der Anteil der Russischstämmigen, die wahlberechtigt sind, ist erheblich geringer.
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Externe Linkhinweise:
columbia.edu: Ieva Gundare - Overcoming the Legacy of History for Ethnic Integration in Latvia
diena.lv: ?bolti?a - Deput?ta svin?g? sol?juma p?rk?pšanai nav juridisku sankciju
ir.lv: SC deput?ts Kabanovs p?rk?pj svin?go zv?restu
cvk.lv: Parakstu v?kšana par groz?jumiem Latvijas Republikas Satversm?
politika.lv: Etnopolitisk? dubultsp?le
Atpakaï