Das war kein guter Tag für Aija Bar?a. Die Parlamentsabgeordnete und Vorsitzende des Ausschusses für Arbeit und Soziales war am 18.8.11 mit den Mitgliedern ihres Gremiums, Gesundheitsminister Juris B?rzdi?š und Mitarbeitern seiner Behörde unterwegs ins westlettische Kuld?ga, der idyllischen 13.000-Einwohner-Stadt an der Venta. Deren berühmtester Stadtvater, Herzog Jakob Kettler, hatte hier bereits im 17. Jahrhundert das erste Hospital gegründet. Bevor die Politiker das Rathaus erreichten, streikte ihr Kleinbus. Städtische Polizisten mussten sie in die Innenstadt chauffieren. Im Rathaus war für 11 Uhr eine Sitzung anberaumt, um die Finanzprobleme der örtlichen Klinik zu besprechen. Auf dem Vorplatz wartete bereits eine bunte Protestmenge auf die Gäste aus der 160 Kilometer entfernten Hauptstadt. Die Webseite der Zeitschrift Kasjauns schildert lebhaft den friedlich geäußerten Unmut. Zirka 300 Demonstranten bekundeten ihr Unverständnis über die Sparpolitik, die ihr städtisches Krankenhaus im besonderen betreffe. Bürgermeisterin Inga B?rzi?a konnte sich an eine solch große Demonstration in ihrer Stadt nicht erinnern. Ein betagter Pritschenwagen sorgte für Aufsehen. Auf seiner Ladefläche befand sich ein schwarzer Sarg mit weißen Punkten. “Die schnelle Hilfe `2 in 1`” lautete die Aufschrift auf den hölzernen Klappwänden des Oldtimers. Davor posierten zwei Kostümierte: Der eine hatte sich als Sanitäter verkleidet, der andere als Leichenbestatter. Mitarbeiter der örtlichen Sportschule erklärten den lettischen Journalisten ihre Idee: Diese Aktion symbolisiere, wie man unter Sparbedingungen haushalten könne: Man vereinige Krankenhäuser mit den Beerdigungsinstituten. Manche Transparente kündeten von der Befürchtung, dass in der Provinz schneller gestorben werde: “Ob von Kuld?ga nur der Friedhof bleibt?” - “Wenn die Fahrt kurz ist, wirst du gerettet, wenn sie lang ist, wartet das Grab auf dich.” Einige Frauen trugen Lazarettuniformen und ein Plakat: “Müssen wir zur Medizin der Kriegszeit zurückkehren?” Ob folgender Slogan Aija Bar?a zu ihrer Freud`schen Fehlleistung verleitete: “In Liep?ja wird der Wind geboren, in Kuld?ga dagegen – Kinder.” Bar?a stellte sich der Menge, doch schon mit dem zweiten Wort erntete sie höhnisches Gelächter: "Labdien, Liep?j?!” - “Guten Tag, in Liep?ja!”
Die betreuende Hand des Mediziners wird nicht jedem Letten zuteil, Foto: Wikimedia Commons
Verteilungskämpfe um weniger Geld
Mit diesem Versprecher traf sie den Nerv der Versammelten. Diese argwöhnen, dass die lettische Regierung die Kliniken der größeren Städte wie Liep?ja und Ventspils finanziell bevorzugt. Gesundheitsminister Juris B?rzdi?š ist nicht nur Mitglied der mitregierenden Bauernpartei, sondern auch der Lokalpartei von Liep?ja. Er versuchte, die Demonstranten zu trösten: “Euer hübsches Krankenhaus muss bleiben und es wird bleiben. Das ist doch das wichtigste!” Dies ist keine Selbstverständlichkeit. Aufgrund der drastischen Sparpolitik der letzten Jahre mussten viele Kliniken schließen. Doch den Krankenhausangestellten und den Bürgern reicht diese Zusage nicht: “Geld! Geld!” fordern sie vom Minister. Tatsächlich müssen die Bewohner der Region fürchten, ab 1. September in akuten Notfällen nicht mehr behandelt zu werden. Die medizinische Versorgung zahlt der Staat, wenn ein Patient akut und lebensbedrohlich erkrankt oder verletzt ist. Doch er gewährt den städtischen Kliniken nur ein begrenztes Budget für diesen Zweck. Kuld?gas Klinikchef Ivars Egl?tis hatte zuvor den Minister auf das Problem hingewiesen: Obwohl seine Ärzte im letzten Jahr 4.999 Notfälle versorgen mussten, plante das Ministerium für dieses Jahr nur 2208 Fälle ein. Es gebe keine Erklärung dafür, warum die Zahl halbiert worden sei. Bereits vor dem Herbstanfang sei das Geld des Notfallbudgets verbraucht. Bürgermeisterin Inga B?rzi?a sekundierte ihrem Klinikchef und wies auf die ungerechte Mittelverteilung zwischen den lettischen Hospitälern hin: Kuld?gas Krankenhaus erhalte für jede Blinddarmoperation nur 171 Lats (241 Euro), das Kreiskrankenhaus von Liep?ja und das Nordkurländische Regionalkrankenhaus in Ventspils dagegen 240 Lats. Was sei in Kuld?ga schlechter als in Liep?ja oder Ventspils? Am Abend äußerte sich Ivars Egl?tis enttäuscht: Der Nachrichtenagentur BNS teilte er mit, dass die mehrstündigen Verhandlungen im Rathaus und die Proteste noch nichts erreicht hätten. Es gebe kein neues Dokument, das mehr Geld zusichere. Dabei hatte Regierungschef Valdis Dombrovskis zuvor einen zusätzlichen Betrag von 6,1 Millionen Lats (8,6 Millionen Euro) für das Gesundheitsressort angekündigt. Statt dessen drohen nun weitere Kürzungen. Egl?tis weigert sich, einer Vertragsänderung zuzustimmen, die für die zweite Jahreshälfte 57.552 Lats (80.954 Euro) Einsparungen im stationären Bereich seiner Klinik vorsieht.
Parlamentsabgeordnete Aija Bar?a hatte einen schweren Stand in Kuld?ga, Foto: Wikimedia Commons
Letten sind medizinisch unterversorgt
Auch die Bürger von C?sis und Ogre hatten in den Tagen zuvor gegen die unzureichende und ungerechte Finanzierung ihrer Krankenhäuser protestiert. Die Bewilligungsbehörde des Gesundheitsministeriums wehrt sich aber gegen den Vorwurf, dass sie das Geld zwischen den Hospitälern ungerecht verteile. Offenbar fehlt allenthalben das Geld, das eine hinreichende Versorgung gewährleisten könnte. Gewerkschafter Valdis Keris kritisierte auf der Kundgebung in Kuld?ga, dass die lettische Regierung weniger als zehn Prozent ihres Haushalts für die Gesundheit ihrer Bürger aufwende. Die Nachbarländer Litauen und Estland benötigten dafür 12,7 bzw. 13,4 Prozent. Viele Kosten und Gebühren müssen lettische Patienten selbst tragen. Deshalb scheuen sie den Gang zum Arzt. Im Februar 2011 berichtete die Tageszeitung Diena von einer Erhebung, die Modris Taujinskis durchgeführt hatte. Er leitet das medizinische Zentrum Eimore. Leider erfuhr der Leser im Artikel nicht die Gesamtzahl der Befragten. Daher bleibt unklar, wie repräsentativ die Resultate sind, doch der erfasste Trend dürfte der lettischen Wirklichkeit annähernd entsprechen. Demnach suchen 65 Prozent der Befragten Arztpraxen oder Hospitäler nur im Notfall auf. Selbst Pflichtuntersuchungen werden nur von 18 Prozent wahrgenommen, lediglich 24 Prozent sind krankenversichert. 60 Prozent gaben an, für einen Arztbesuch nicht mehr als 10 Lats (14 Euro) aufwenden zu können. Doch das reiche oftmals nicht aus. Taujinskis äußerte sich besorgt über die Ergebnisse seiner Studie. Angesichts der Tatsache, dass nur eine Minderheit Mitglied einer Krankenversicherung ist, vertrauten in der Zeit der Wirtschaftskrise immer mehr Einwohner auf ihr subjektives Empfinden und fügten damit nicht selten ihrer Gesundheit unumkehrbaren Schaden zu. "Am Ende leidet die gesamte Gesellschaft, denn öfters als in anderen Ländern verlieren wir erwerbsfähige Individuen und handeln uns Einwohner ein, die aus dem Sozialbudget versorgt werden müssen," resümierte Taujinskis.
Externe Linkhinweise:
diena.lv: P?t?jums: 65% iedz?vot?ju ?rstu apmekl? tikai traumu vai smagu saslimšanu gad?jumos
diena.lv: Egl?tis: Protesta akcija Kuld?gas slimn?cas atbalstam pagaid?m nav devusi rezult?tus
diena.lv: VNC: Kuld?gas slimn?cai pieš?irtais finanšu apjoms ir pamatots
nra.lv: Dump?gajai Kuld?gas slimn?cai neapsola vair?k
nra.lv: Kuld?gas slimn?cas atbalstam piket? medi?i un pacienti
delfi.lv: Saeimas deput?tus l?dz Kuld?gas domes ?kai nog?d? policija
delfi.lv: Ogres medi?i piket?s pret finans?juma samazin?jumu
delfi.lv: Medi?u protests Ogr? pulc? vair?k nek? 200 dal?bniekus; VM p?rst?vji neierodas
kasjauns.lv: Saeimas deputati pasi nezina uz kurieni atbraukusi
kurzemnieks.lv: Piket? pulc?j?s Kuld?gas un citu novadu iedz?vot?ji
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