Die Vertreter des IWF (Internationaler Währungsfonds), die als internationale Kreditgeber die Sparpolitik der lettischen Regierung beaufsichtigen, reisten Mitte April wieder nach Riga. Sie zeigten sich recht zufrieden. Die monetären Zahlen stimmen zuversichtlich. Die Haushaltsdaten bessern sich und trotz finanzieller Einschränkungen verzeichnet die lettische Wirtschaft wieder Wachstumsraten. Andererseits bleibt für viele Erwerbslose, Kranke, Rentner, Familien oder Alleinstehende mit Kindern die Lage aussichtslos. Gerade in der Woche, als die IWF-Missionare wieder hinter verschlossenen Türen verhandelten, beschloss die Parlamentsmehrheit, die Kürzungen des Sozialetats zu verlängern.
Im lettischen Parlament wurden am 14. April 2011 neue Spargesetze und Steuererhöhungen beschlossen, Foto: Xil auf Wikimedia Commons
Die monetäre Situation stimmt Regierung und Gläubiger zuversichtlich
Während die IWF-Experten noch in Riga weilten, stimmten am 14. April die Parlamentarier der Fraktionen Vienotiba/ Einigkeit und Za?o un Zemnieku savien?ba/ Union der Grünen und der Bauern (ZZS) dafür, den Sparkurs ihrer Regierung fortzusetzen. Das Wirtschaftsweb nozare.lv führt an, welche Streichmaßnahmen verlängert werden: Die staatlichen Zahlungen für Patienten, Eltern und Erwerbslose bleiben bis Ende 2014 begrenzt. Pro Tag übernimmt der lettische Fiskus nur Rechnungen bis zu einem Betrag von 11,51 Lats (=16,22 Euro) im vollen Umfang. Darüber hinaus werden Patienten, Eltern oder sozial Bedürftigen weiterhin nur 50 Prozent der Kosten erstattet. Diese Regelung galt zunächst nur bis Ende 2012. Im Anhang erläutert der Gesetzgeber sein Ziel: Das defizitäre Sozialbudget soll „stabilisiert“ werden, sonst hätte er die Sozialabgaben erhöhen oder die Renten kürzen müssen. Dabei erscheint die eingesparte Summe übersichtlich: 2013 sollen so 25,83 (=36,41 Millionen Euro) und 2014 dann noch einmal 26,42 Millionen Lats eingespart werden. Finanzminister Andris Vilks und der IWF wünschen sogar, dass diese Kürzungen in Kraft bleiben, bis Lettland den Euro einführt. Dieser Termin steht aber längst noch nicht fest.
Die Spitze des Swedbank-Towers ragt in den Himmel über der Daugava. Neben der Parex-Bank, die der lettische Staat übernahm, sorgte auch diese schwedische Bank für eine Überschuldung vieler lettischer Privathaushalte, Foto: Alesha/ Texaner auf Wikimedia Commons
IWF nimmt direkten Einfluss auf die Gesetzgebung
Wie konkret der Einfluss des IWF auf das lettische Budget ist, zeigen die Diskussionen um die Tabak- und Alkoholsteuern. Lettische Lobbyisten hatten versucht, die Erhöhung dieser Steuern zu verhindern. Die Generalsekretärin der Konföderation Lettischer Arbeitgeber/ Latvijas Darba dev?ju konfeder?cijas, El?na Egle, erklärte gegenüber delfi.lv, dass Branchenvertreter mit den IWF-Experten gesprochen hatten. Die Verteuerung von Alkohol und Tabak käme nur den Schmugglern und dem Schwarzmarkt zugute. Finanzminister Vilks unterstützte ihre Bitte. Doch der IWF lehnte ab und beharrt darauf, diese Steuern zu erhöhen. Ansonsten scheint Eintracht zwischen den internationalen Kreditgebern und dem lettischen Kabinett zu herrschen. Sie weisen auf die Erfolge ihrer Zusammenarbeit hin: Die Nachrichtenagentur LETA nennt die Zahlen, mit denen die Regierung wirbt. Das Budgetdefizit falle geringer aus als prognostiziert: Die Einnahmen seien um 102 Millionen Lats höher als die geplanten 4,256 Milliarden Lats (= 6 Milliarden Euro). Die staatlichen Ausgaben seien dagegen nur um 19,9 Millionen umfangreicher als die veranschlagten 4,748 Milliarden. Die Neuverschuldung betrage nach lettischer Rechnung 3,7 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Aber die lettischen Statistiker rechnen günstiger als ihre internationalen Kollegen. Die Opposition sieht die wirtschaftliche und soziale Lage weniger rosig.
Quo vadis, lettische Wirtschaft? Einerseits weist die lettische Regierung auf bessere Konjunkturdaten hin. Andererseits erreicht dieser Aufschwung längst nicht alle, die Erwerbslosenquote bleibt hoch, junge Leute wandern ab. Dennoch ist kaum zu befürchten, dass Letten ab Mai einen Massenexodus gen Deutschland unternehmen: Für geringer Qualifizierte ist das Stellenangebot begrenzt, Informatiker und Mediziner bevorzugen das englischsprachige Ausland, Foto: LP
Oppositionelle Parlamentarier wollen Sozialkürzungen verhindern
Die Nachrichtenagentur BNS misstraut den Erfolgsmeldungen und nennt andere Zahlen: Demnach hat der lettische Fiskus bereits in den ersten drei Monaten des laufenden Jahres fast die Hälfte der geplanten Schulden für 2011 getätigt. Diese seien mit 240 Millionen Lats doppelt so hoch wie zum Zeitpunkt des Vorjahres. BNS warnt davor, dass die tatsächliche Neuverschuldung am 31. Dezember 7,6 Prozent betragen könnte. Nicht nur das russisch orientierte Mitte-Links-Bündnis Saska?as Centrs/ Zentrum der Eintracht, auch die wirtschaftsliberale Oppositionsfraktion Für ein gutes Lettland/ Par labu Latviju (PLL) kritisiert die Fortschreibung der Sozialkürzungen. 37 Oppositionsabgeordnete forderten den Staatspräsidenten Valdis Zatlers auf, die Spargesetze nicht zu publizieren, so dass sie für die Dauer von zwei Monaten nicht in Kraft treten. Zatlers muss dieser Bitte entsprechen. Die Verfassung gestattet, in dieser Zeit Unterschriften zu sammeln, um eine Volksabstimmung herbeizuführen. Die PLL und die nationalkonservative Fraktion schlugen am 14. April vor, statt die Verbrauchssteuern für Energie, Zigaretten und Alkohol zu erhöhen, Glücksspieler und Besucher von Spielcasinos stärker zur Kasse zu bitten. Zudem forderte die Opposition, stufenweise die Einkommenssteuer zu reduzieren und den Steuerfreibetrag für Personen, deren Lebensunterhalt ein Steuerzahler finanzieren muss, auf 100 Lats (= 141 Euro) anzuheben. Auch weitere Vorschläge wie z.B. Steuernachlässe für Arbeitgeber, die Erwerbslose einstellen, erhielten keine Mehrheit. Insgesamt wirkt das Verhalten der lettischen Oppositionsparteien populistisch. Sie weisen zwar nicht grundlos auf die soziale Notlage vieler Rentner, junger Erwerbsloser oder Kranker hin. Doch sie verschweigen, dass ein wirksamer Sozialstaat hinreichend hohe Steuern benötigt und Vermögendere stärker belasten müsste. Die ZZS gebärdet sich zuweilen als Opposition innerhalb der Regierungskoalition. Sie gehorcht dem Oligarchen aus Ventspils, Aivars Lembergs. Er schlug vor, dass die Regierung mit dem IWF darüber verhandelt, die Rückzahlung des 7-Milliarden-Euro-Kredits aufzuschieben. Nachdem sich Lembergs selbst mit den IWF-Gästen getroffen hatte, war davon keine Rede mehr.
Die Plattenbauten von Ziepniekkalns sind das letzte Wohnviertel Rigas, das in sowjetischer Zeit entstanden ist. Trotz der grauen Aussicht schätzen die Bewohner den Komfort der Wohnungen: Fernwärme-Heizungen und Bäder mit warmem Wasser, Foto: LP
Keine Perspektive für sozial Benachteiligte
Arme und Bedürftige bleiben angesichts der fortgesetzten Sparpolitik perspektivlos. Eurostat-Daten beziffern Lettland als das EU-Land mit dem knappsten Wohnraum. Es hat die größte Einkommensdifferenz zwischen Arm und Reich. Fehlende Krankenversicherungen machen die medizinische Versorgung zum finanziellen Risiko für den einzelnen Patienten. Seit dem Finanzdesaster von 2008 sind Letten nach Bulgarien und Rumänien die drittärmsten EU-Bürger. 2009 berechneten die EU-Statistiker, dass 39,7 Prozent der lettischen Bevölkerung materielle Entbehrungen erleidet. Nur für Bulgarien, Ungarn und Rumänien ermittelten sie höhere Werte. Die zwar rückläufige, aber nach wie vor hohe Erwerbslosenquote macht es schwer, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Trotz Abwanderung betrug sie im Dezember 2010 immer noch 17,3 Prozent. Das war die dritthöchste im EU-Raum. (Die lettischen Zahlen sind aktueller und günstiger. Da sie aber anders berechnet werden, sind sie international nicht vergleichbar).
Die Moskauer Vorstadt Rigas hat ihre malerischen Reize. Aber ihre alten Ziegel- und Holzhäuser sind meistens nicht saniert. Die Bewohner leben häufig in schlecht beheizbaren Wohnungen mit veralteten sanitären Einrichtungen, Foto: LP
Wehe dem, der keine Verwandten hat
Was es heißt, in Lettland arm zu sein, veranschaulicht die Situation von Je?ena Z. Ir-Redakteurin Ieva Alberte wurde auf sie durch einen spektakulären Zwischenfall aufmerksam. Ein TV-Kamerateam hatte zufällig gefilmt, wie die 29-jährige am 16. März mit den Antifaschisten gegen die SS-Veteranen protestierte. Dabei geriet sie mit einer Seniorin in Streit, die sie als „Russin“ bezeichnet hatte. Doch zuvor hatte Je?ena Z., die einen ukrainischen Vater und eine lettische Mutter hat, ihre Mitbürgerin selbst als „Faschistin“ beschimpft. Die 78-jährige wollte aber nur ihrer Angehörigen gedenken. In der Stalinzeit wurde ihr Vater erschossen, nachdem er sich geweigert hatte, seine Pferde abzuliefern. Auf den Vorwurf, Russin zu sein, entgegnete Je?ena Z. „Es esmu Latviete/ Ich bin Lettin“, gab der Angefeindeten eine Ohrfeige und bespuckte sie. Alberte recherchierte in der Ir-Ausgabe vom 7.4.2011 Ursachen und Umstände dieser Auseinandersetzung. Sie besuchte beide Frauen. Alberte meint, dass die soziale Notlage der jungen Frau ihren Wutausbruch erklärt. Sie wohnt mit dem Mann und der Tochter in einem Holzhaus in der Moskauer Straße, nicht der besten Wohngegend Rigas. Nach dem Abschluss der Mittelschule, der in etwa dem deutschen Abitur entspricht, belegte sie Programmierkurse und absolvierte eine Frisörlehre. Ihr letzter Job war es, elektronisch die Daten einer Apotheke zu verarbeiten. Doch dann kam die Wirtschaftskrise und sie verlor ihre Stelle. Danach arbeitete sie ein halbes Jahr lang schwarz als Hausmeisterin. Zuletzt blieb nur die Möglichkeit, im 100-Lats (=141-Euro)-Programm zu jobben. Ihre Aufgabe war es, die Umgebung von Schulen zu beaufsichtigen. Nun ist sie bereits im zweiten Jahr gänzlich ohne bezahlte Arbeit und ohne eigenes Einkommen. Auch der 100-Lats-Job ihres Ehemanns endete im Februar. Für ihre Tochter erhalten sie 8 Lats (=11,28 Euro) Kindergeld im Monat. Zu ihrem Geburtstag am 15. März fehlte der Mutter das Geld, ein Geschenk zu besorgen. Die Familie lebt jetzt von den Renten der Großeltern. Die 52-jährige Schwiegermutter liegt seit einem Schlaganfall vor vier Jahren im Krankenbett und muss vom jungen Elternpaar versorgt werden. Die gläubige Je?ena Z. bereut ihre Tat. Die 78-jährige Anna B. hat darauf verzichtet, gegen die junge Mutter zu klagen. Die Seniorin ist wenig begeistert von den Verhältnissen in ihrem Land: „Und wo sind wir mit dem ganzen freien Lettland? Wer ist an der Macht? Alle schönen Seen Lettgallens gehören Š??le, Kalv?tis und Repše.“ (Andris Š??le war Regierungschef, ist immer noch Saeima-Abgeordneter und gilt als `Oligarch` als einflussreicher Geschäftsmann, sein Parteifreund Aigars Kalv?tis war in der Zeit der `fetten Jahre` ebenfalls Ministerpräsident, als die Blasenökonomie ihren Höhepunkt erreichte und platzte. Einars Repše war Regierungschef und mehrmals Minister. Vom Amt des Verteidigungsministers trat er zurück, weil er in eine private Finanzaffäre verwickelt war.)
Externe Linkhinweise:
nozare.lv: Ignor?jot opoz?ciju, Saeima pie?em budžeta groz?jumus
delfi.lv: Budžeta defic?ts pirmaj? ceturksn? – 240 miljoni latu
delfi.lv: Aizdev?ji noraida uz??m?ju priekšlikumu šogad v?l necelt akc?zi alkoholam un tabakai
diena.lv: Vald?ba pan?k nepieciešam?s vienošan?s ar starptautiskajiem aizdev?jiem
nra.lv: P?c asto?as stundas ilg?m debat?m Saeima pie?em š? gada budžeta groz?jumus
nra.lv: Valsts budžet? ir lieli robi
knl.lv: Aizdev?ji aizbrauks, bet jaut?jumi paliks
knl.lv: Dombrovska un Lemberga, Vienot?bas un ZZS, un Latvijas pl?ns
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