Volkszählung in Lettland: Nur noch 2.067.887 Einwohner
20.01.2012
Aija Ž?gure, Leiterin des lettischen Zentralamts für Statistik (Centr?l? statistikas p?rvalde, CSP), verkündete am 18.1.2012 in einem Rigaer Hotel die vorläufigen Ergebnisse der Volkszählung, die im letzten Frühjahr durchgeführt wurde. Die Staatsbürger und Einwohner mit lettischem Wohnsitz konnten die Fragen nach Alter, Adresse, Bildung und Beruf, Wohnraum und Nationalität im Internet beantworten. Die Übrigen wurden danach von Volkszählern besucht, bis alle Haushalte ermittelt waren. Als zentrale Frage erwies sich, wieviele Einwohner Lettland wegen des Geburtenrückgangs und der Abwanderungswellen überhaupt noch hat. Das Gerücht kursierte, dass die Bevölkerungszahl die Zweimillionengrenze bereits unterschritten habe. Die unsichere wirtschaftliche und soziale Lage ist gerade für jüngere Letten der Grund, sich nach einer besser bezahlten Arbeit im westlichen Ausland umzuschauen. Ž?gure teilte den Journalisten mit, wie brisant die Situation inzwischen ist: Die Volkszählung aus dem Jahr 2000 ermittelte noch 2.377.383 Personen. Seitdem verringerte sich die Zahl der Einwohner um 309.496. Das entspricht einem Rückgang um 13 Prozent. Damit hat sich der Bevölkerungsschwund beschleunigt.
Aufgegebene Porzellanfabrik in Riga: Viele Industriebetriebe mussten nach der lettischen Unabhängigkeit schließen, Foto: LP
Abwanderung hat unterschiedliche wirtschaftliche Gründe
Zunächst hatte eine erste Auswertung der Daten im Juni des letzten Jahres eine Einwohnerzahl von etwa 1.9 Millionen ergeben. Doch die Statistiker rechneten weitere Personen hinzu, die sie zwar nicht angetroffen hatten, aber nach Behördenangaben im Land wohnen müssten. Ob so lange Kartei-Einwohner gesucht wurden, bis die politisch brisante Zwei-Millionen-Grenze überschritten war, bleibt Spekulation. Dramatisch sind die Zahlen auch so und sie liegen weit unter den Angaben der offiziellen Meldestatistik: Diese verzeichnete noch für den Dezember 2011 einen Stand von mehr als 2,2 Millionen. Die Statistiker erklären die Differenz durch das Verhalten der Emigranten: Diese hätten sich bei den Behörden nicht abgemeldet. Die meisten Menschen bevölkerten Lettland, als es noch eine Sowjetrepublik war: 1989 wurden etwa 2.7 Millionen Einwohner gezählt. Im Jahr 2000 war die Zahl schon auf knapp 2,4 Millionen gesunken. Das entsprach einem Rückgang um 10,9 Prozent. Nach 89 kehrten Russischstämmige in ihre Heimat zurück. Angehörige der (post)sowjetischen Armee und Fabrikarbeiter verloren damals ihre Stellen. Die Öffnung nach Westen und der Beitritt zur EU veranlasste dann auch viele Letten, sich nach besser bezahlter und sozial abgesicherter Arbeit auf den Britischen Inseln, in Schweden, Norwegen – oder bis zum letzten Jahr illegal – in Deutschland umzuschauen. Lettische Akademiker erzielten als Helfer auf irischen Plantagen ein höheres Einkommen denn als Lehrer in heimischen Schulen. Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise stiegen die lettischen Erwerbslosenraten zeitweilig bis auf über 20 Prozent. Jugendliche und junge Erwachsene haben Schwierigkeiten, in Lettland ein hinreichendes Auskommen zu finden. „In Lettland kann man ja nur noch Verkäuferin werden“, mit diesem Satz kommentierte eine junge Lettin mit Hochabschluss während der Bankenkrise von 2009 ihre Situation.
Die alten Räume des ehemaligen Technik-Konzerns VEF werden teilweise von neuen Firmen genutzt. Aber die neuen Dienstleistungsbetriebe können den Verlust alter Industriearbeitsplätze nicht ausgleichen, Foto: LP
Die Erwerbsbevölkerung emigriert
Die CSP-Statistiker nennen zwei Gründe: Eine sinkende Geburtenrate, die die Sterbefälle nicht ausgleicht. Daraus folgt ein Rückgang um 119.000. Hinzu kommt, dass sie weitaus mehr Auswanderer als Einwanderer verzeichnen. Deshalb verlor Lettland im letzten Jahrzehnt weitere 190.000 Einwohner. Die CSP erstellte eine Grafik, die den Verlust nach Altersgruppen aufgliedert. Die Anzahl der Kinder (bis 14 Jahre) reduzierte sich in einem Jahrzehnt von 430.275 auf 291.744, die Zahl der Personen im Erwerbsalter (15 bis 61) von 1.511.322 auf 1.326.019. Nur die Zahl der Rentner (ab 62, die allerdings auch häufig zur schmalen Rente hinzuverdienen) erhöhte sich: Von 435.786 auf 450.124. Die Regionen sind von dieser Entwicklung unterschiedlich betroffen. Gerade aus den Gebieten mit den höchsten Erwerbslosenquoten wandern die Menschen ab. Deshalb ist das ostlettische Lettgallen am meisten betroffen: Seit 2000 verlor es 21,1 Prozent seiner Bevölkerung. Alle größeren Städte haben weniger Einwohner. Die lettgallische Metropole Daugavpils (deutschbaltisch: Dünaburg) büßte 19,3 Prozent ein. Die zweitgrößte Stadt des Landes hat damit gerade noch über 100.000 Bürger. Aber auch die Hauptstadt Riga, die zugleich das wirtschaftliche Zentrum des Landes ist, verlor überdurchschnittlich: 14,2 Prozent. Ein Grund könnten die hohen Miet- und Lebenshaltungskosten in der Baltenmetropole sein – denn im Umland wuchs die Bevölkerung zur gleichen Zeit um 3,2 Prozent.
|
2000 |
2011 |
%-Anteil von 2011 im Vergleich zu 2000 |
||
Zahl |
in % |
Zahl |
in % |
||
Gesamt: |
2 377 383 |
100 |
2 067 887 |
100 |
87,0 |
Letten |
1 370 703 |
57,7 |
1 284 194 |
62,1 |
93,7 |
Russen |
703 243 |
29,6 |
556 422 |
26,9 |
79,1 |
Weißrussen |
97 150 |
4,1 |
68 174 |
3,3 |
70,2 |
Ukrainer |
63 644 |
2,7 |
45 699 |
2,2 |
71,8 |
Polen |
59 505 |
2,5 |
44 783 |
2,2 |
75,3 |
Litauer |
33 430 |
1,4 |
24 426 |
1,2 |
73,1 |
Sinti, Roma |
8 205 |
0,3 |
6 452 |
0,3 |
78,6 |
Juden |
10 385 |
0,4 |
6 416 |
0,3 |
61,8 |
Deutsche |
3 465 |
0,1 |
3 023 |
0,1 |
87,2 |
Esten |
2 652 |
0,1 |
2 000 |
0,1 |
75,4 |
Sonstige |
25 001 |
1,1 |
26 298 |
1,3 |
105,2 |
Anteil der einzelnen Bevölkerungsgruppen unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft, der Anteil der lettischen Bevölkerung sinkt in absoluten Zahlen, steigt aber im Verhältnis zu den anderen ethnischen Gruppen, Quelle: CSP
Die Finanz- und Wirtschaftskrise beschleunigt den Exodus
Seit der Parex-Bankkrise von 2009 wandern noch mehr ab. Die CSP registrierte nach der bisherigen offiziellen Statistik für das Jahr 2011 einen Rückgang um 23.000 Personen, etwa 4.300 mehr als im Vorjahr. Die Zahl der Emigranten erreichte den Rekordwert von 14.900. Das ist wohl die Erklärung, weshalb sich die Parlamentsvorsitzende und Chefin der Regierungspartei Vienot?ba/ Einheit, Solvita ?bolti?a, die Zahlen schönredet. Die Daten seien optimistischer als erwartet. Offenbar wertet sie schon als Erfolg, dass die CSP-Statistiker noch mehr als zwei Millionen Einwohner fanden. Sie ahnt wohl, dass die Öffentlichkeit die demographischen Probleme der drastischen Sparpolitik der Regierung anlasten könnte. Die Politik der `inneren Abwertung`, die das Kabinett des Premiers Valdis Dombrovskis betreibt, bedeutete Stellenstreichungen im öffentlichen Dienst und Gehaltskürzungen bis zu 40 Prozent. Dombrovskis selbst bedauerte in einem Radio 101-Interview vom 18.1.12 die Entwicklung, ohne allerdings auf den beschleunigten Exodus in seiner Amtszeit einzugehen. Der Regierungschef nannte die allgemeinen wirtschaftlichen Probleme als Ursache. Die massenhafte Ausreise sei verbunden mit dem Beitritt Lettlands zur EU. Der Hauptgrund für die Auswanderung sieht Dombrovskis in den großen Gehaltsunterschieden zwischen den alten EU-Staaten und Lettland. Mihails Hazans, Professor für Wirtschaftsmathematik an der Lettischen Universität, prognostiziert, dass in den kommenden vier Jahren weitere 100.000 Letten ihr Land verlassen werden.
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Lettische Erwerbslosenquote im Dezember: 22,8 % - Ökonomen rechnen mit weiteren Abwanderungen
Externe Linkhinweise:
goethe.de: Emigration – Lettlands neue Charakteristik
radio101.lv: Radiointerview mit Valdis Dombrovskis
csb.gov.lv: Par 2011.gada tautas skait?šanas galvenajiem provizoriskajiem rezult?tiem
delfi.lv: Hazans - tuv?kajos tr?s ?etros gados no Latvijas emigr?s v?l 100 000 cilv?ku
tvnet.lv: Cilv?ku aizbraukšana turpin?sies
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