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Lettland: Lehrer im Warnstreik
27.11.2015


Lehrergewerkschaft kritisiert das „gleichgültige und geringschätzige Verhalten der Regierung“

Lizda-DemonstrationNach Demonstrationen vor der Saeima verschärft sich der Unmut der Erzieherinnen, Lehrer und Dozenten. Die meisten von ihnen folgten am 27.11.2015 dem Aufruf der Bildungsgewerkschaft Lizda, die an diesem Tag einen Warnstreik organisiert hatte. Die Pädagogen erschienen zwar in der Schule, erteilten aber keinen Unterricht. Die Beschäftigten der Kindergärten forderten die Eltern auf, ihre Kinder zu Hause zu lassen. Oj?rs Sp?r?tis, Leiter der Wissenschaftlichen Akademie, solidarisierte sich in einem Brief, den er den Gewerkschaftern schickte. Laut den Zahlen, die Lizda auf ihrer Webseite veröffentlichte, scheint die Mobilisierung gelungen. Demnach streikten 24.577 Lehrer und Wissenschaftler in insgesamt 911 Schulen und wissenschaftlichen Einrichtungen (Stand: 25.11.2015). Lettland hat 842 allgemeinbildende Schulen mit 31.420 Lehrern, 63 Berufsschulen und 60 Hochschulen. Auch technische und hauswirtschaftliche Mitarbeiter traten in den Ausstand. Die meisten staatlichen Bildungseinrichtungen wurden also bestreikt. Die Lehrer fordern seit Jahrzehnten bessere Gehälter - bislang vergeblich.

Demonstration der Bildungsgewerkschaft Lizda, die Eule ist ihr Logo, Foto: Lizda

 

Europas Kirchenmäuse

Die Gewerkschafter verhandelten in den letzten Jahren mit verschiedenen Bildungsministern, die nicht zuletzt die Unzufriedenheit der Pädagogen zermürbt hatten. Aber deutliche Gehaltssteigerungen wurden stets auf die Zukunft vertagt. Lettlands Lehrer und Dozenten gehören zu den Kirchenmäusen Europas. Die EU-Kommission verglich für das Schuljahr 2011/12 die Pädagogengehälter der 27 Mitgliedstaaten. Ein lettischer Oberstufenlehrer erhielt damals maximal kaufkraftbereinigte 6.512 Euro/KKS pro Jahr. Das war der niedrigste Wert innerhalb der Ländergemeinschaft. Daran hat sich kaum etwas geändert. Ohne Überstunden und Nebenjobs kommen die Betroffenen kaum über die Runden. Ein besonderes Problem ist der Geburtenrückgang auf dem Lande. Die Entlohnung orientiert sich nämlich an der Schülerzahl. In der Provinz verdiente 2014 über die Hälfte des Lehrpersonals weniger als 400 Euro brutto im Monat. Auf ihrer Webseite beklagt Lizda das „gleichgültige und geringschätzige Verhalten der Regierung“. Das neue Modell, das die Bildungsministerin ausarbeiten ließ, sei mit den Gewerkschaftern nicht abgesprochen gewesen und es drohe, die Situation für viele Mitarbeiter in den staatlichen Bildungseinrichtungen weiter zu verschlechtern. Die Lehrer fordern als Sofortmaßnahme, die Reserve im Staatshaushalt, neun Millionen Euro, für Gehaltserhöhungen bereitzustellen. Davon sollen Erzieher in Vorschuleinrichtungen und Lehrer in kleinen Schulen mit weniger als 100 Kindern profitieren. Zudem dürfe die Regierung nicht zulassen, dass gemäß ihres neuen Entlohnungsmodells Gehälter sogar reduziert würden. Lizda fordert auch für die Angestellten der Hochschulen mehr Geld. Die Regierung soll für sie im nächsten Jahr zusätzlich sechs Millionen Euro bereitstellen. Weitere 3,6 Millionen verlangen die Gewerkschafter, um an den Hochschulen neue Stellen einzurichten.

Demonstration mit Transparenten

"Müssen wir auch das Land verlassen?" ist die Frage, die dieses Transparent stellt, Foto: Lizda

Ministerin M?r?te Seile weist auf leere Staatskasse

Bildungsministerin M?r?te Seile verteidigte im Lettischen Radio am Streiktag ihre Position. Sie weist den Kommunen einen Teil der Verantwortung zu. Sie organisierten das Schulnetz. Da die Landgemeinden offenbar zu kleine Schulen zulassen, sind die Gehälter zu niedrig. Doch für ein ideales Entlohnungssystem, das alle Wünsche befriedige, reiche das Geld nicht. Sie wies auch den Vorwurf zurück, Gewerkschafter nicht angehört zu haben. Man habe sich im letzten halben Jahr mehrmals getroffen und danach Änderungen am neuen Gehaltsmodell vorgenommen. Kein Minister sei so mächtig und keine Regierung so reich, dass sie alle Forderungen erfüllen könnten. Man müsse Kompromisse finden. Kritik erntet die Warnstreik-Aktion von der ehemaligen Lizda-Vorsitzenden Ingr?da Mikiško. Die Aktion sei fehl am Platz, da die Forderungen zu diesem Zeitpunkt unerfüllbar blieben. „Man kann nicht beträchtlich mehr Mittel in einer Zeit fordern, wenn schon seit einigen Tagen in der Saeima geplant ist, den Etat für das kommende Jahr in letzter Lesung zu beschließen.“ Mikiško fürchtet, dass die Lehrer über das Ergebnis ihres Arbeitskampfs enttäuscht sein werden.

Lizda-Demonstration

"Lehrergehälter für Minister und Abgeordnete" fordert dieses Transparent, Foto: Lizda

Unerhörte Proteste

Auf die Frage des Rundfunkmoderators, ob Seile zum Rücktritt bereit sei, antwortete die Ministerin ausweichend, dass solch ein Schritt kein Selbstzweck darstelle. Ziel sei es, das System zu verbessern, um die Lehrer zufriedenzustellen. Lehrer protestierten schon in den neunziger Jahren gegen die niedrige Bezahlung. 1995 und 1999 streikten sie. 2009, als viele Schulen geschlossen, Kollegen entlassen und Gehälter gekürzt wurden, drohte Lizda, Lettlands größte Einzelgewerkschaft, wieder mit Streik, unterließ ihn dann aber. Die Proteste bewirkten mehrere Ministerrücktritte. Doch das Ziel deutlich höherer Gehälter wurde bislang nicht erreicht. Die Regierungsvertreter weisen auf die sinkenden Schülerzahlen. Im Schuljahr 2000/01 verzeichneten die Statistiker noch 333.572 Schülerinnen und Schüler in lettischen Klassen, 2014/15 nur noch 191.906. Das entspricht prozentual einem Schwund von 42,6 Prozent. Auch die Lehrerzahl ist rückläufig, aber weniger drastisch: Sie reduzierte sich in derselben Zeit von 37.481 auf 31.420, also um 16 Prozent. Somit ergibt sich eine Spirale nach unten: Werden demnächst weitere Schulen geschlossen, bietet sich jungen Familien noch weniger Anreiz, auf dem Land zu wohnen. Mikiško äußerte einmal in einem LP-Interview die Ansicht, dass die Lehrer für den Geburtenrückgang nicht verantwortlich zu machen sind. Auch Pädagogen mit kleinen Schulklassen fordern ein Gehalt, dass ihrer Ausbildung entspricht. Eine Lehrerin aus Talsi beklagte sich, dass das bestehende System Kollegen als Konkurrenten, nicht als geeintes Kollegium behandle. Auch sie streike. Gerade habe sie an einer Fortbildung in Rom teilgenommen. Dort sei sie in der Auffassung bestärkt worden, dass man sich in Lettland gegen Arbeitnehmer im Bildungsbereich abschätzig verhalte. Die Kollegen anderer europäischer Staaten schüttelten den Kopf, wenn ihnen lettische Lehrer ihr Gehalt nennen. Wenn man dann noch hinzufüge, dass dies nicht der wöchentliche, sondern der monatliche Lohn sei, stelle sich ihnen die Frage, weshalb Lettland überhaupt noch Polizisten, Feuerwehrleute, Krankenschwestern und Lehrer habe – die anderen staatlichen Angestellten werden vergleichbar schlecht bezahlt. Bei Umfragen zeigt sich die Mehrheit der Letten gegenüber den Lizda-Forderungen skeptisch. Vielen ist immer noch nicht klar, welche Funktion freie Gewerkschaften überhaupt haben. Doch der Verband „Eltern für Bildung“ hat sich mit den Streikenden solidarisiert. Vorstandsmitglied Silvija Titova-Meija unterstützt den Lehrerprotest: „Der Streik ist kein Dialog, sondern ein Schritt der Verzweiflung, den derzeit Lizda unternimmt. Wir glauben, dass keine andere Wahl besteht.“

 

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