Lettland: Die Regierung von M?ris Ku?inskis - Teil 3: Meinung der politischen Beobachter
09.03.2016
Lettlands Parteien: Demokratisch oder effektiv?
Auf der feierlichen Eröffnungssitzung seiner Regierung bekannte der neue Ministerpräsident Ku?inskis, im Kabinett weder der „große Boss“ noch ein „Beisitzer“ sein zu wollen: „Ich habe nie anders als im Team gearbeitet,“ kennzeichnete der Politiker seinen Führungsstil. Zudem verteidigte er die staatlichen Angestellten: „Meine Meinung ist, dass wir die Menschen nicht mehr von der Arbeit in der staatlichen Verwaltung abschrecken können. Für die staatliche Verwaltung zu arbeiten ist eine große Ehre und Verantwortung.“ Das sind ungewohnte Töne in einem wirtschaftliberal geprägten Land, in dem so mancher Behörden als aufgebläht und ineffizient brandmarkte. Wie kommentieren lettische Beobachter den neuen Regierungschef, sein Kabinett und die Koalition? Soziologin Ieva Strode schätzt die Haltung der Bürger wohlwollend, eher positiv als negativ ein, das belegten ihre Umfragen. So äußerte sie sich auf lsm.lv1. Es sei nicht so, dass man der neuen Regierung mit Sorgen und Befürchtungen begegne. Ihr Kollege Aigars Freimanis bezeichnet Ku?inskis auf derselben Webseite als zielgerichteten und rationalen Menschen. In dieser Quelle wird auch der Politologe Ivars ?jabs zitiert: Gewiss wolle Ku?inskis als ein hinlänglich produktiver Politiker in die Geschichte eingehen. Er hoffe offensichtlich, die vielfachen Lobbyinteressen zu überwinden und gewichtige Probleme etwa in der Hochschulbildung zu lösen. J?nis Endzi?š, Leiter der Lettischen Industrie- und Handelskammer, hatte die Solidaritätssteuer für Besserverdiener scharf kritisiert2. Diese war von der Vorgängerregierung gegen den Widerstand seiner Kammer eingeführt worden. Vom neuen Premier verspricht sich Endzi?š mehr Einvernehmen: Seine Organisation schaue sehr hoffnungsvoll auf die neue Regierung, meinte der Lobbyvertreter. Ku?inskis habe viel Erfahrung im Business, in der Politik und in der kommunalen Verwaltung, dabei sei er als ein auf Dialog orientierter Mensch bekannt. Auch Anna Medne, Dozentin an der privaten Wirtschaftshochschule „Tur?ba", beurteilte die steuerpolitischen Vorhaben aus Unternehmersicht.
Ku?inskis`Kabinett, Foto: Toms Norde, Valsts kanceleja
Die Absicht, Kapital statt der Arbeit zu besteuern, hat Tradition
Medne fordert auf irlv.lv3 eine für Unternehmer kalkulierbare Steuerpolitik und missbilligt die steuerpolitischen Maßnahmen der letzten Zeit. Auch kleine Änderungen der Steuersätze könnten für Unternehmen große Verluste, sogar die Zahlungsunfähigkeit bedeuten. Lettland gehört im EU-Vergleich zu jenen Staaten, in denen der Fiskus relativ wenig einnimmt und ausgibt. Medne bezeichnet das Vorhaben der Regierung, die staatlichen Einnahmen bis 2018 um mehr als ein Prozent im Verhältnis zum BIP zu steigern, als ambitioniert und schwer erreichbar. Sie kritisiert, dass sich das Kabinett auf Experten der Weltbank und nicht auf lettische Berater verlasse. Die neue Regierung setze voraus, im eigenen Land keine objektiven Experten zu finden. Ebenso skeptisch zitiert die Dozentin die Absicht aus der Regierungserklärung, die Steuerlast von der Arbeit auf Kapitaleinkommen, Verbrauch und Immobilienbesitz zu übertragen. Es sei Tradition, dies in Erklärungen und Programme einzufügen. Offenbar glaubt die Ökonomin nicht, dass eine solche papierne Tradition Konsequenzen für zukünftige Steuergesetze hat. Zudem hält sie den Steuersatz von 15 Prozent für zu hoch. Den sollen neu gegründete Unternehmen, die einen Jahresumsatz zwischen 7000,01 und 100.000 Euro erzielen, ab 2017 zahlen. - Im internationalen Vergleich ist dies aber noch ein ziemlich niedriger Satz. Als wichtige Aufgabe wertet Medne die Bekämpfung der Schwarzarbeit, um dem Teufelskreis aus niedrigen Einnahmen für die Rentenkasse und entsprechend niedrigen Auszahlungen zu entkommen.
Aivars Lembergs, Foto: Toms Norde, Valsts kancelejaderivative work: Gaujmalnieks - This file was derived from Ministru prezidents Valdis Dombrovskis tiekas ar Latvijas Lielo pils?tu asoci?cijas p?rst?vjiem (8076321183).jpg: , CC BY-SA 2.0Der Joker Lembergs spielt wieder mit
Ivars ?jabs überlegte sich auf delfi.lv4, was der Regierungswechsel über die lettische Demokratie aussagt. Mit M?ris Ku?inskis steht nun nach über zehn Jahren wieder ein Mitglied der Union der Grünen und Bauern (ZZS) einem Kabinett vor. Dies dürfte dem Bürgermeister von Ventspils, Aivars Lembergs, gefallen. Dieser Geschäftsmann und Politiker wird von seinen Gegnern zu den Oligarchen des Landes gezählt. Er gilt als Strippenzieher hinter der ZZS-Kulisse. ?jabs zitiert Solvita ?bolti?a, Vorsitzende der mitregierenden Vienot?ba, der Partei, die sich wegen ihrer inneren Zerstrittenheit auf keinen eigenen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten einigen konnte: Im entscheidenden Moment diktiere Lembergs nun die Politik. Der Mann, der seinen Hut zu seinem Markenzeichen kürte, hat laut ?jabs eine Joker-Funktion: Er könne die Politik konstruktiv mitgestalten, aber sich genauso unberechenbar in einen bösen Dämon verwandeln, der hinter allem Schlechten und Falschen stehe, das sich im lettischen Staat abspiele. Seine Gegner, die ihn im Gefängnis sehen oder zumindest aus der Politik verdrängen wollten, seien selbst aus der Politik verdrängt worden oder hätten sich angepasst und Lembergs gefügt. Vor diesem Hintergrund erscheint dem Politologen der Einsatz lettischer Politiker, Beamter und Ratgeber aller Art in der Ukraine geradezu komisch. Dort sollen sie die Korruption bekämpfen: „Unsere Landsleute, die bei sich zu Hause schon seit Jahrzehnten nicht mit Lembergs zurechtkommen, können tatsächlich sehr wertvolle Ratschläge für den Kampf gegen Achmetov, Kolomoisky, Firtasch und Männer vergleichbaren Kalibers geben. Es ist kein Wunder, dass es mit solchen Ratgebern den Ukrainern so ergeht, wie es der Fall ist. Jedenfalls hat Lembergs` glänzende Figur jene ziemlich ernüchtert, welche sich weiterhin beschwindeln, dass wir, als schon echte Europäer, den Ukrainern, Russen, Weißrussen und allen anderen unserer ehemaligen Brüder der `unzerstörbaren und unbesiegbaren` UdSSR weit voraus sind.“
Der Unternehmer und ehemalige Politiker Andris Šk?le, Foto: By Saeima - http://www.flickr.com/photos/saeima/5160173737/, CC BY-SA 2.0Vienot?bas degeneriertes Demokratieverständnis
Für Vienot?ba, der Partei, die einst der lettischen Oligarchie den Kampf ansagte, deren Regierungschef Valdis Dombrovskis aber die ZZS nach den Anti-Oligarchenprotesten von 2011 schon bald wieder an der Macht beteiligte, zeichnet ?jabs ein widersprüchliches Bild. Er fragt sich, ob eine lettische Partei zugleich demokratisch und effektiv sein könne und ob „effektive“ Parteien stets nach dem Muster der – inzwischen aufgelösten – Tautas partija des anderen Oligarchen Andris Šk?le bzw. nach der ZZS gebildet werden. Vienot?ba sei tatsächlich immer demokratisch gewesen. “Die wesentlichen Beschlüsse nimmt dort tatsächlich der Vorstand an; Wort- und Gewissensfreiheit kennt dort keine Grenzen; kein Parteimitglied treibt es zu krassen Überschreitungen der Satzung. Doch das praktische Resultat dieser `Demokratie` sind – demokratisch angenommene, doch idiotische und zutiefst egoistische Beschlüsse; ununterbrochene Verleumdung der eigenen Partei als Norm; ununterbrochener Flirt der Genossen mit Konkurrenten und selbst offene Sabotage im Namen der Meinungsfreiheit. Solches wäre schwer vorzustellen in den `undemokratischen` [Parteien wie] Tautas partija, ZZS oder Saska?a. Meine Hypothese: Effektivität und Demokratie schließen sich in Lettlands politischen Organisationen wechselseitig aus, denn `Demokratie` wird bei uns als Lizenz zur Verantwortungslosigkeit verstanden.“ Doch der Politologe bemängelt in der (noch) größten Regierungspartei ebenso Karriereambitionen und die Neigung, an Ämtern haften zu bleiben. Das sei persönlich niemandem zum Vorwurf zu machen, auch Politiker wollen Kredite zurückbezahlen oder die Ausbildung ihrer Kinder finanzieren. „Doch Organisationen, welche nur das Streben nach guten Gehältern, hübschen Kabinetten und exotischen Dienstreisen zusammenhält, sind in der praktischen Arbeit deutlich ineffektiver als jene, welche eine gemeinsame Überzeugung eint. Und, so traurig das auch sein mag, zum letzteren Typ gehören in Lettland nur zwei politische Organisationen - Saska?a und Nationale Allianz.“ Das sind die beiden Parteien links und rechts, die gegensätzliche ethnische Interessen vertreten, jene der russischstämmigen Minderheit bzw. jene der lettischen Nationalisten. Diese beiden Parteien seien notwendig, der Rest, einschließlich Vienot?ba und ZZS lediglich zufällig und vorübergehend. Leider sei Vienot?ba nicht imstande, im Sinne eigener Überzeugungen auf Ämter zu verzichten, daher könne sie erfolgreich von Lembergs benutzt werden. Zwar glaubt ?jabs daran, dass sich Vienot?ba aus dem Umfragetief wieder emporschwingen wird, doch die grundsätzlichen Probleme sieht er langfristig nicht gelöst: „Die Rede ist erstens von einem vollständig degenerierten Demokratieverständnis; zweitens vom Zusammenwachsen gepolsterter Ledersessel mit, eigens zu erkennen, wem.“
Weitere LP-Artikel zum Thema:
Die Regierung von M?ris Ku?inskis - Teil 1: Regierungserklärung
Die Regierung von M?ris Ku?inskis - Teil 2: Meinung der Opposition
Quellen:
1http://www.lsm.lv/lv/raksts/latvija/zinas/debates-un-vertejumi-
par-kucinska-valdibu.-teksta-tiesraides-arhivs.a168577/
2http://financenet.tvnet.lv/zinas/592181-endzins_driz_ne_tikai_
ltrk_bet_ari_uznemeji_versisies_tiesa_pret_solidaritates_nodokli
3http://www.ir.lv:889/2016/3/2/ko-nodoklu-politika-sola-kucinska-valdiba
4http://www.delfi.lv/news/comment/comment/ivars-ijabs-rigas-
laiks-kresli-un-demokratija.d?id=47154769
Atpakaï