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Lettische Hausärzte beginnen unbefristeten Streik
04.07.2017


„Die staatliche Medizin ist verkommen“

Freund Hein vor der SaeimaSeit dem 3.7.2017, Punkt 12 Uhr mittags, müssen sich lettische Patienten umsehen. Seitdem ist es für viele schwierig, einen Arzt zu finden, der ein Rezept ausstellt, eine Krankheit bescheinigt oder Kopfschmerzen kuriert. 600 „gimenes arsti“, „Familienärzte“, deren Tätigkeit jener deutscher Hausärzte entspricht, streiken seitdem, bieten Hilfe nur noch in lebensbedrohlichen Notfällen. Etwa die Hälfte der lettischen Hausärzte befindet sich somit in einem unbefristeten Ausstand. Das ist insbesondere für Betroffene auf dem Land ein Problem, wo das nächste Krankenhaus weit entfernt ist. Die Regierung zeigt Verständnis für den Unmut der Mediziner, bittet aber um Geduld.

Freund Hein in der Farbe der Union der Grünen und Bauern vor der Saeima während einer Protestaktion der Krankenschwestern im letzten Jahr, Foto: LP

 

2,85 Euro für einen Hausbesuch

LTV-Journalistin Aija Kinca befragte einen Familienarzt (lsm.lv), weshalb er den Streik unterstützt. Seine Praxis befindet sich im Dorf Stalgene, 20 Kilometer von Jelgava und 50 Kilometer von Riga entfernt. Kinca beschreibt ihn als einen von gerade mal acht allgemeinmedizinischen Ärzten, die alle gesetzlichen Anforderungen erfüllten, von der Krebs-Früherkennung über Impfung bis zur Behandlung chronisch Kranker. Das sind acht Familienärzte von etwa 1200 registrierten. Leichter und günstiger sei es für ihn, nichts zu tun. Denn was ihm der Staat für seine private Praxis zahle, decke die Kosten nicht. Für einen Hausbesuch bei Patienten über achtzig Jahre erhalte er 2,85 Euro. Diese Summe decke weder die Kosten für die Fahrt noch für die Behandlung. Das sei ein „mystischer“, vom Gesundheitsministerium bestimmter Betrag. Er schließt sich den Forderungen des Lettischen Verbandes der Familienärzte an, der nun den Streik organisiert (lgaa.lv): Eine Erhöhung der Behandlungstarife um 45 Prozent und eine 30prozentige der Pro-Kopf-Zahlungen, die ein Arzt für alle Einwohner seines Bezirks erhält, das sind derzeit jeweils 1,25 Euro monatlich. Der Staat soll zudem 30 Prozent mehr für die Löhne der Schwestern und Arzthelfer ausgeben. Die Streikenden fordern außerdem Verbesserungen im elektronischen Gesundheitssystem, das bislang nur mangelhaft funktioniere. Der Arzt aus Stalgene arbeitet seit 20 Jahren in seiner Praxis und er habe von Anfang an gewarnt. Die staatliche Medizin sei derart verkommen, dass seit Jahren ein Mangel an Familienärzten prognostiziert werde. Zwar ständen die Ärzte immer noch bereit, aber alles andere funktioniere nicht und ihre Forderungen seien von den Politikern ignoriert worden. Das lähme die ärztliche Arbeit und die Menschen seien genötigt, private medizinische Behandlungen in Anspruch zu nehmen, also selbst dafür zu bezahlen.

Protestaktion der Ärzte und Krankenschwestern vor der Saeima

Ärztinnen und Krankenschwestern protestierten Ende September 2016 vor dem lettischen Parlament gegen das geringe Budget des Gesundheitsressorts. Doch mit begrenzten Warnaktionen konnte das medizinische Personal seine Forderungen nicht durchsetzen. Nun beginnen die Familienärzte einen unbefristeten Streik, Foto: LP

 

Missstand seit 25 Jahren

Ministerpräsident Maris Kucinskis zeigt ein gewisses Verständnis für die Proteste, bittet aber um Geduld (lsm.lv). Gerade plant sein Kabinett die Erhöhung der Sozialabgaben um ein Prozent, welche Lohnabhängige und ihre Chefs vom Gehalt zahlen müssen. Damit sollen ab nächstes Jahr weitere 200 Millionen Euro zusammenkommen. Sie sind für das Gesundheitsressort vorgesehen, davon 80 Millionen für bessere Bezahlung des medizinischen Personals. Man müsse bekennen, dass der Karren bereits seit 25 Jahren, also seit der lettischen Unabhängigkeit, im Dreck stecke. Damit äußert der Regierungschef eine gewisse Selbstkritik, adressiert an die eigenen Gesinnungsgefährten, denn Kucinskis` Parteienverband, die Union der Grünen und Bauern, war in so manchen Kabinetten der Vorgängerregierungen vertreten. Kucinskis` Parteifreundin, Gesundheitsministerin Anda Caksa, bekennt, dass die Lage im Gesundheitsbereich äußerst angespannt ist (lsm.lv). Derzeit sei ihr Ministerium zu 90 Prozent damit ausgelastet, Notdienste zu organisieren. Nicht nur bei den Familienärzten brennt es, auch Onkologen und Chirurgen, überhaupt alle Mediziner, die von staatlichen Leistungen abhängig sind, klagen über zu niedrige Bezahlung und zu lange Arbeitszeiten. Auch Valdis Keris, Vorsitzender der Lettischen Gewerkschaft für die Angestellten in der medizinischen und sozialen Pflege (LVSADA), kündigte für den Juli Protestaktionen seiner 800 Mitglieder an, das sei eine spürbare Anzahl. Seiner Ansicht nach komme es manchen Politikern und Arbeitgebern gelegen, wenn Ärzte und Pflegekräfte unterbezahlt würden (lsm.lv). Derweil wollen sich junge Ärzte an den Kliniken nicht als Streikbrecher einspannen lassen und nicht in weiteren Überstunden die Patienten der Familienärzte übernehmen. Ihr Verbandsvertreter Arturs Balodis wendet ein, dass die Nachwuchsärzte bereits 240 Stunden im Monat arbeiteten. Ihr Stundenlohn auf dem Papier betrage 3,20 Euro und viele arbeiteten auf zwei Arbeitsstellen, weil sie von einem Gehalt nicht leben könnten (lsm.lv).

Anda Caksa

Gesundheitministerin Anda Caksa, Foto: Juris V?gulis, Saeimas Administr?cija - 16.j?nija Saeimas s?de, CC BY-SA 2.0, Saite

Finanzierungsnot im Niedrigsteuerland

Sarmite Veide, Vorsitzende des Verbandes der Familienärzte (LGAA), organisierte bereits im letzten Jahr den Protest vor dem Ministerkabinett. Doch begrenzte Warnaktionen führten nicht zur Erfüllung ihrer Forderungen. Mit einem unbefristeten Streik erreicht der Widerstand ihrer Organisation nun eine neue Stufe. Allerdings offenbarte sie in einem Zeitungsinterview von Anfang Juni ihr ziemlich begrenztes Verständnis von Solidarität (la.lv). Sie glaubt, dass die Unterfinanzierung im medizinischen Bereich nicht allein durch Steuererhöhungen zu bewältigen sei und empfiehlt der Regierung, zugunsten der Ärzte bei den Ausgaben für Kommunen, Kultur und Bildung zu kürzen (in Bereichen also, in denen ebenfalls viele unterbezahlte Angestellte zu finden sind, U.B.). Es gebe keinen Grund für die Behauptung, dass die staatlichen Einnahmen für die ärztliche Behandlung nicht ausreichten. Die medizinische Versorgung leide aufgrund des kurzsichtigen und verantwortungslosen Agierens der Politiker. Es scheine, dass jene, die politische Entscheidungen treffen bzw. diese beeinflussen, sich selbst für unsterblich halten, meint Veide. Sie sähen nicht jene Tausende unter den lettischen Einwohnern, welche alljährlich leiden und sterben, weil sie keine rechtzeitige medizinische Hilfe erhielten. Veides Haltung zu Steuererhöhungen erscheint allzu wohlfeil. Lettland ist der EU-Staat, der, prozentual bezogen auf den BIP-Anteil, im Jahr 2015 am allerwenigsten für die medizinische Versorgung seiner Bürger aufwendete (ec.europa.eu), Lettland hatte, ebenfalls gemessen am BIP, auch die viertniedrigsten Steuereinnahmen (ec.europa.eu). Für das laufende Jahr hat die Regierungskoalition bereits eine Etaterhöhung im Gesundheitsressort um 64 Millionen Euro beschlossen - weniger als für das Militär, dessen Budget um 98 Millionen Euro erhöht worden ist.

 

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