Lettland - Diskussionen um "Tscheka-Säcke"
09.02.2018
Von Geheimdienstlern und ihrem Anspruch auf Geheimhaltung
TscheKa ist die russische Abkürzung für die Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage. Sie wurde auf Lenins Geheiß gegründet, um Kritiker und Gegner seines Regimes auszuschalten. Tscheka gilt als Synonym für staatliche Verfolgung, Verhaftung, Deportation und Exekution. Die Mitarbeiter und Agenten der sowjetischen Geheimdienste NKWD und des später gegründeten KGB waren ebenfalls gefürchtet, auch sie wurden "Tschekisten" genannt. In der Zeit, als Lettland eine Sozialistische Sowjetrepublik war, befand sich die lettische KGB-Filiale im "Stura Maja", im Eckhaus zwischen der Brivibas und Stabu Straße in Riga. Dort wurde eine Kartei mit zirka 25.000 Agentennamen angelegt. Von diesen Karteikarten sind schätzungsweise ein Fünftel bis ein Drittel in zwei Stoffsäcken erhalten. Mehr als zwei Jahrzehnte blieben sie versiegelt. Erst 2014 beschloss die Saeima, eine interdisziplinäre Kommission einzusetzen, die den Inhalt erforschen und ausgerechnet 2018, im Jahr des 100jährigen Staatsjubiläums, veröffentlichen soll. Laut Gesetz muss die geplante Publikation bis zum 31. Mai erfolgen. Das sorgt für zahlreiche Diskussionen.
Das "Stura Maja", die ehemalige Zentrale des KGB in Riga, Foto: LP
Anfang der 90er Jahre, als die Letten ihre staatliche Unabhängigkeit errangen, war die Situation in manchen Behörden recht unübersichtlich. Während das Land schon von Vertretern der Volksfront regiert wurde, arbeiteten in der Rigaer KGB-Filiale noch die alten sowjetischen Angestellten. In ihrer Obhut befand sich die besagte Mitglieder-Kartei. Den Mitarbeitern, die in sowjetischer Zeit Mitbürger ausspioniert hatten, blieb also genügend Zeit, Nachweise ihrer Geheimdienstaktivitäten verschwinden zu lassen.
Lato Lapsa und weitere Journalisten widmeten in ihrer dreibändigen Recherche über lettische Zeitgeschichte "M?su v?sture (Unsere Geschichte): 1985 - 2005" den Tscheka-Säcken ein eigenes Kapitel (pietiek.com). Die Frage, wie die einst doch wohl in einem geeigneten Möbel sortierten Karteikarten in Säcke endeten, ist mit zahlreichen Sonderbarkeiten verbunden. Am 11. November 1991 ordnete das Innenministerium an, die Überreste der Agentenkartei ins lettische Parlament zu transportieren, das damals noch "Oberster Rat der lettischen Republik" hieß. Es war kein Staatsanwalt zugegen, der die Aktion überwacht hätte. Die Dokumente wurden nicht gesichtet und gezählt. Karten fanden sich "zufällig" auf der Treppe des KGB-Hauses verstreut.
Die Historikerin und Saeima-Vorsitzende Ilga Grava-Kreituse berichtete damals der Presse: "Die Dokumente wurden in recht spezifischer Weise in Empfang entgegengenommen, in Säcke gestopft." Die Journalisten nennen eine Reihe weiterer Merkwürdigkeiten: Zuvor hatten sich Abgeordnete bereits Zugang zur Kartei im Stura Maja verschafft. Sie fanden dabei Gelegenheit, belastende Dokumente zu entwenden. Fünf KGB-Computer, die verschlüsselte Personaldaten enthielten, waren ebenfalls verschwunden. Damals hatte die Regierung angeblich kein Geld, einen Flug zu finanzieren, mit dem weitere KGB-Dokumente aus Moskau hätten angeliefert werden können. So fragt sich, ob sich in den Säcken überhaupt noch Brisantes findet. Zudem wird über gefälschte Dokumente spekuliert.
Um solche Fragen zu klären, wurde 2015 eine wissenschaftliche Kommission mit 23 Mitgliedern, überwiegend Historikern und Juristen, einberufen. Dessen Vorsitzender Karlis Kangeris berichtete im letzten November über den Unmut in seiner Runde, weil die lettische Verfassungsschutzbehörde SAB ihr einen Maulkorb auferlegen wolle (lsm.lv). In der Wendezeit setzten manche "Tschekisten" ihre Karriere in lettischen Geheimdiensten fort. SAB sollte den beauftragten Wissenschaftlern eine elektronische Datenbank zur Verfügung stellen, auf der zusätzlich aufschlussreiche Tscheka-Daten gespeichert sind. LTV-Journalisten fanden aber heraus, dass die Verfassungsschützer darauf Daten und Namen gelöscht hatten. Jetzt ist die Datei für die Forschungskommission weitgehend unbrauchbar (lsm.lv).
Ende Januar wollten die Wissenschaftler damit beginnen, die Daten der Tscheka-Säcke auf dem Server der Lettischen Universität zu veröffentlichen. Doch dann brachen sie den Upload ab, weil Zweifel an der Rechtmäßigkeit aufkamen (lsm.lv). Kritiker befürchten, dass die Bekanntmachung von Namen ehemaliger Tscheka-Mitarbeiter gegen Persönlichkeitsrechte verstoßen könnte. Sie weisen auf Erfahrungen in Estland und Litauen hin, wo solche Daten längst publik gemacht wurden. Ein Este klagte beispielsweise erfolgreich vor dem Europäischen Gerichtshof des Straßburger Europarats. Er hatte gegen die Veröffentlichung seines Namens geklagt: Er sei nur als Fahrer für den sowjetischen Geheimdienst tätig gewesen, die Richter werteten die Publikation als Verstoß gegen seine Persönlichkeitsrechte. Der Menschenrechtskommissar der Straßbuger Institution, der Lette Nils Muiznieks, warnt vor einer voreiligen Veröffentlichung. Er empfiehlt, dass Lettland sich an die Venedig-Kommission des Europarats wendet, die in solchen Fragen Regierungen juristisch berät (lsm.lv).
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