Lettland: Karteidaten der „Tscheka-Säcke“ im Internet zugänglich
04.01.2019
Die Erforschung des sowjetlettischen KGB steckt noch „in den Windeln“
Vor drei Jahren schrieb die damals 90jährige lettische Sowjet-Dissidentin Lidija Doronina-Lasmane gemeinsam mit acht Gleichgesinnten einen offenen Brief an den Staatspräsidenten Raimonds Vejonis, der Parlamentsvorsitzenden Inara Murniece und an die damalige Ministerpräsidentin Laimdota Straujuma: „25 Jahre nach der Unabhängigkeit der lettischen Republik hat weder die juristische noch moralische Auswertung der Okkupationsfolgen und der Kollaboration stattgefunden.“ Die Verräter hätten ihre Verbrechen nicht eingestanden und seien nicht bestraft worden, die Opfer bis heute ohne Genugtuung geblieben. Deshalb forderten die Intellektuellen, unter ihnen Wissenschaftler, Dichter und Schriftsteller, den Inhalt der sogenannten „Tscheka-Säcke“ zu veröffentlichen. Sie beinhalten Karteikarten mit etwa 4300 Namen ehemaliger Agenten des sowjetlettischen KGB. Nach vielen Debatten und Verzögerungen sind die Daten seit dem 20. Dezember 2018 im Internet zugänglich.
Das berüchtigte "Eckhaus" der sowjetlettischen KGB-Zentrale, in der heute ein Museum untergebracht ist. In diesem Gebäude wurden die "Tscheka-Säcke" gefunden, Foto: LP
Nur ein Fünftel der Karteien erhalten
Von den Angaben über etwa 25.000 registrierten Agenten, deren Funktion jenen inoffizieller Mitarbeiter der Stasi entspricht, sind also weniger als ein Fünftel erhalten. Die Einträge stammen aus der Zeit von 1953 bis 1991. Die „Tschekisten“ und ihre Spitzel verfolgten die nationale Partisanenbewegung, organisierten Deportationen und Exekutionen, überwachten Oppositionelle.
Während der Zeit des Unabhängigkeitskampfes Anfang der 90er Jahre beobachtete man rauchende Kamine über dem berüchtigten „Eckhaus“ an der Brivibas Straße in Riga, der örtlichen KGB-Zentrale. In den ersten Jahren der Unabhängigkeit hatten die Mitarbeiter des Geheimdienstes viel Gelegenheit, belastendes Material zu vernichten. Daher ist fraglich, ob sich in den erhaltenen Dokumenten noch viel Neues und Brisantes finden lässt (LP: hier). KGB-Angestellte, die kein Interesse an einer Aufarbeitung hatten, wurden von den Behörden der unabhängigen lettischen Republik übernommen. Dies ist ein Grund dafür, weshalb die Aufklärungs- und Forschungsarbeit hierzulande ziemlich spät begonnen hat.
Verzögerungen aus unterschiedlichen Gründen
Der Gesetzgeber wollte die Dokumente, die sich ungeordnet in Stoffsäcken im „Eckhaus“ befanden, bereits 2004 publizieren, doch Staatspräsidentin Vaira Vike-Freiberga legte ihr Veto ein. Es sei wichtig, erklärte sie, dass die Öffentlichkeit vertrauenswürdige und unverzerrte Informationen erhalte, die einen authentischen Einblick in die Arbeit des Geheimdienstes und seiner Mitarbeiter gewährleiste (lvportals.lv). Die Gegner einer Veröffentlichung befürchteten, dass Karteien gefälscht sein könnten oder ein bloßer Eintrag zu falschen Schlussfolgerungen führt.
Ohne weitere Recherchen sind die Karten wenig aussagekräftig, sie erhalten nur Namen, Adresse und Funktion des Agenten, den Namen seines Vaters, Geburtsjahr und -ort, die Arbeitsstelle sowie die Nachnamen des Anwerbers und des Vorgesetzten, der die Anwerbung bestätigte, zudem das Anwerbedatum.
Wissenschaftliche Erforschung des sowjetlettischen KGB zurückgeblieben
Arturs Zvinklis, ein Historiker, der den sowjetlettischen Geheimdienst erforscht, meint, dass sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema in Lettland um Jahrzehnte verzögert habe. Die Dateien bildeten nur einen geringen Teil des Systems ab, mit denen die sowjetischen Herrscher ihre Macht absicherten. Unberücksichtigt sei in der Diskussion um Tscheka-Säcke jene Schicht aus Sowjetbürgern, die Nachbarn, Freunde oder den eigenen Ehepartner bzw. Ehepartnerin denunzierten und deren Namen man nicht in diesen Dateien findet (lsm.lv). Mara Sprudza, Leiterin des Lettischen Nationalarchivs, ist der Ansicht, dass die lettische Forschung hier noch „in den Windeln“ stecke.
Ein Beispiel dafür, dass solche Namenseinträge nicht unbedingt ein Nachweis für Aktivitäten sind, die nach heutigem Rechtsverständnis bestraft werden könnten, bietet die Karteikarte von Indrikis Muiznieks, dem amtierenden Rektor der Lettischen Universität. Er wisse seit fünf Jahren von diesem Eintrag aus dem Jahr 1974, der ihn sehr überrascht habe. Er kann ihn sich nach eigener Aussage nur dadurch erklären, dass er im Rahmen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit internationale Kontakte hatte (lsm.lv).
2014 beschlossen die Saeima-Abgeordneten, eine wissenschaftliche Kommission einzuberufen, die die Publikation der Tscheka-Säcke vorbereitet. Deren Vorsitzender Karlis Kangeris beklagte sich darüber, dass der lettische Verfassungsschutz SAB, der bislang über die Dateien verfügte, die Mitarbeit verweigert und der Kommission unbrauchbare Daten übermittelt habe.
Ein erster Versuch, die Dokumente im Internet zu veröffentlichen, wurde Anfang des vorigen Jahres abgebrochen, weil Zweifel bestanden, ob Persönlichkeitsrechte verletzt wurden. Erst ein weiteres Gesetz, das die Saeima-Abgeordneten im Oktober verabschiedeten, regelt die nun erfolgende Publikation über die Server des Nationalarchivs.
Größeres Interesse als erwartet
Unter der Webadresse kgb.arhivi.lv können Internetnutzer, nachdem sie sich mit ihrer E-Mail-Adresse registriert haben, die Daten der Tscheka-Säcke anklicken. Das Interesse ist größer als erwartet, bereits am ersten Tag der Veröffentlichung verzeichneten die Serverbetreiber innerhalb von zwölf Stunden mehr als 12.000 Interessenten, die sich registriert hatten. Auch Internetnutzer im Ausland, vor allem in Russland, Weißrussland, der Ukraine, den USA und Großbritannien nutzen rege dieses Angebot (lsm.lv).
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