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Lettland: Saeima erklärt russische Geschichtsfälschungen über den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs für inakzeptabel
25.01.2020


„An welchem Ort trainierten deutsche Panzerfahrer? In der Sowjetunion!“

saeima am 16. Januar 2020Vor dem Hintergrund der aktuellen Streitigkeiten zwischen Russland und Polen, welches Land für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs an der Seite Deutschlands mitverantwortlich ist, haben die Abgeordneten der lettischen Saeima am 16. Januar 2020 eine Resolution beschlossen, die Umdeutungen und Geschichtsfälschungen verurteilt (titania.saeima.lv). In ihr heißt es unter anderem, dass die Versuche russischer Amtsträger, historische Fakten über Ursachen, Fortgang und Resultat des Zweiten Weltkriegs zu leugnen, das Bestreben darstelle „die Verantwortung der Sowjetunion für den Kriegsausbruch in Europa zu verringern und die begangenen Verbrechen des totalitären Sowjetregimes zu relativieren“. Im Hinblick auf das geheime Zusatzabkommen des Hitler-Stalin-Pakts, das die Aufteilung Osteuropas unter den beiden Großmächten vorsah, heißt es: „Das Bestreben russischer Amtsträger, international anerkannte historische Einschätzungen infrage zu stellen, Aktionen der Sowjetunion zu rechtfertigen, die gegen die staatliche Souveränität und territoriale Integrität anderer Staaten gerichtet waren, stehen im Widerspruch zu den Prinzipien historischer Gerechtigkeit und zu den Grundlagen guter Nachbarschaft.“ Die Erklärung erinnert daran, dass Lettland 1940 zunächst von sowjetischen Truppen besetzt wurde und bereits nach dem Einmarsch der Roten Armee schwere Repressionen gegen die lettische Bevölkerung erfolgten. Im Gegensatz zu westeuropäischen Ländern sei Lettland wie andere Staaten Zentral- und Osteuropas am 8. Mai 1945 nicht befreit, sondern wiederholt von der „zweiten totalitären Macht“, der Sowjetunion, okkupiert worden. Initiator der Saeima-Resolution war Ainars Latkovskis, Fraktionsvorsitzender der Regierungspartei Jauna Vienotiba (JV). 69 von hundert Abgeordneten stimmten für die Erklärung, die oppositionelle Partei Saskana beteiligte sich nicht an der Abstimmung, die nach einer lebhaften Debatte (saeima.lv) erfolgte.

Saeima-Sitzung vom 16.1.2020, Foto: Ieva Abele, Saeima

Der JV-Abgeordnete Ojars Eriks Kalnins war erster Redner zum Thema. Für ihn ist der Hitler-Stalin-Pakt, der in Osteuropa Molotow-Ribbentrop-Pakt genannt wird, der Auslöser des Zweiten Weltkriegs: „Zwei totalitäre Regime – das nationalsozialistische Deutschland und die kommunistische Sowjetunion einigten sich am 23. August 1939, internationale Rechtsnormen übertretend, wechselseitig die Interessensphären in Zentral- und Osteuropa abzustecken, indem sie den Molotow-Ribbentrop-Pakt und dessen geheimes Zusatzabkommen beschlossen, somit den Zweiten Weltkrieg entfesselten.“ Zum Schluss seiner Rede bezog er sich auf die wichtigste lettische Forderung, die bis heute das Verhältnis zu Russland belastet: „Die Russische Föderation als Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion muss die Tatsache der Okkupation und widerrechtlichen Annexion Lettlands anerkennen und sich von politisch motviertem Revisionismus und Geschichtsfälschungen lossagen.“

Danach stritten Abgeordnete der mitregierenden Nationalen Allianz (NA) und der oppositionellen Saskana (S) um die richtigen Deutungen und Wertungen. Der S-Abgeordnete Vjaceslavs Dombrovskis wandte sich gegen „die Erzählung“ der Regierungsparteien, dass die Sowjetunion und vor allem der Hitler-Stalin-Pakt den Zweiten Weltkrieg entfacht habe: „Mit anderen Worten, falls es keinen Molotow-Ribbentrop-Pakt gegeben hätte, dann hätte es auch keinen Zweiten Weltkrieg gegeben. Also hätte Hitler einfach gesagt: `Okay, Lebensraum im Osten haben wir gar nicht nötig! Sich an Frankreich und England... Großbritannien für die Niederlage im Ersten Weltkrieg zu rächen – auch das haben wir nicht nötig.`“

Und er spekulierte, unterbrochen durch Zwischenrufe, darüber, was ohne die Okkupation der Roten Armee geschehen wäre und spielte dabei auf das Bestreben der lettischen Nationalkonservativen an, die Kollaboration mit dem NS-Regime während der deutschen Besatzung zwischen 1941 und 1944 zu verdrängen: „Hätten die baltischen Länder friedlich bis auf den heutigen Tag gelebt? Hitler-Deutschland auf alle seine Ambitionen im Osten verzichtet, auf den Lebensraum für Deutsche? Ich denke, das zu glauben, wäre naiv. Was wäre gefolgt, was wäre geschehen? Würden wir heute über die deutsche [statt sowjetische] Okkupation sprechen? Ob die baltischen Länder sich freiwillig Hitler-Deutschland angeschlossen hätten... um ein Verbündeter zu werden wie Rumänien? Und dann würden wir heute wahrscheinlich überhaupt nicht über diese historische Periode reden, nicht wahr?“

Der NA-Abgeordnete Aleksandrs Kirsteins entgegnete, er habe aus Dombrovskis` Worten entnommen, dass die Sowjetunion überhaupt nicht im Zusammenhang mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs stehe. In einem größeren historischen Rückblick skizzierte er dann die militärische Zusammenarbeit Deutschlands und der Sowjetunion in der Zwischenkriegszeit, dabei verschweigend, dass sie zur Zeit der Weimarer Republik erfolgte, als Hitler noch längst nicht die Macht ergriffen hatte: „Erinnern wir uns daran, dass nach dem Ersten Weltkrieg, als die Wehrmacht [die damals noch Reichswehr hieß] strikten Begrenzungen [die der Versailler Vertrag auferlegt hatte] unterworfen war, mir scheint, sie wissen sehr gut, Herr Dombrovskis, an welchem Ort deutsche Piloten trainierten. In der Sowjetunion wurden für sie speziell Flugplätze errichtet, wo sie trainierten. An welchem Ort trainierten deutsche Panzerfahrer? In der Sowjetunion! An welchem Ort trainierten die Einheiten der Wehrmacht mit chemischen Waffen? In der Sowjetunion! Weshalb mussten die Wehrmacht und ihre Verbände, die chemische Waffen einsetzten, hier trainieren? Weil die Sowjetunion enorme Erfahrung in der Verwendung des Kampfgases gegen friedliche Einwohner im Bürgerkrieg gesammelt hatte... Die Rote Armee. [Bauernführer] Antonovs, andere Bauernaufstände... Sie alle wurden mit Gas vergiftet, deshalb versteckten sich diese Bauern in den Wäldern.“

Den Einsatz von Gaswagen, mit denen die Deutschen vor allem Psychiatrieinsassen ermordeten, führt Kirsteins, sich auf Alexander Solschenizyn berufend, auf eine sowjetische Erfindung zurück: Isaak Berg, Leiter des Moskauer NKWD, habe sich 1937 den ersten Gaswagen der Welt ausgedacht, um Menschen auf diese Art zu ermorden. Kirsteins weist auf die Kooperation zwischen deutscher Gestapo und dem sowjetischen Geheimdienst NKWD hin: „Mehrere Delegationen der deutschen Gestapo fanden sich in der Sowjetunion ein, wo sie der NKWD mit der Einrichtung sowjetischer Konzentrationslager vertraut machte.“ Kirsteins endet ironisch: „Klar, es gibt überhaupt keinen Zusammenhang mit der Sowjetunion!“

Kirsteins` Fraktionskollege Edvins Snore bezog sich auf den aktuellen russisch-polnischen Streit. Polen, das zugleich von Deutschland und der Sowjetunion angegriffen wurde, werde nun von Putin beschuldigt, den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verschuldet zu haben. „...Polen, die – zu Zehntausenden! - in Auschwitz und Katyn ermordert wurden. Die Polen, so scheint es, sind selber schuld und haben selbst den Zweiten Weltkrieg entfacht. Diese Rhetorik Putins beginnt sehr jener Hitlers zu ähneln, die er in den 30er Jahren pflegte, als auch er Juden beschuldigte, den Ersten Weltkrieg entfesselt zu haben. Wir wissen recht gut, was aus dieser Geschichtsinterpretation folgte und wohin sie Deutschland und Europa gebracht hat.“

Snore erwähnte, dass auch das polnische Parlament jüngst das historische Narrativ des Kremls verurteilt habe. Putin hatte auf den Antisemitismus eines polnischen Diplomaten vor Kriegsausbruch hingewiesen, der deutsche Pläne, Juden umzusiedeln, unterstützt habe. „Vor dem Holocaust gab es wirklich den Plan Hitlers, Juden einfach aus dem Land auszuweisen, aber dieser Plan wurde nicht realisiert, denn niemand wollte diese Menschen aufnehmen. Und Lettland war damals eines der wenigen Länder in der Welt, das aus Deutschland geflohenen Juden Obdach bot. Die Sowjetunion, die nun von Putin rechtfertigt wird, entsagte sich damals, dies zu tun, nahm keine Juden auf und das erwähnt Putin natürlich nicht. Statt dessen hören wir heute aus Moskau, dass die baltischen Staaten sowohl am Holocaust als auch an der Zusammenarbeit mit dem nazistischen Deutschland schuld hätten.“

Der fraktionslose Abgeordnete Aldis Gobzems wertete die Debatte als eines der typischen Duelle zwischen der Nationalen Allianz und Saskana. Er hält den Beschluss von Resolutionen, deren Inhalte längst allgemein bekannt seien, für überflüssig. Er wünsche sich lieber Resolutionen über Lettlands Zukunft, was man bis 2050 für den Wohlstand der lettischen Bürger tun könne. Dann wendete er sich an den NA-Abgeordneten Rihards Kols, der an der Debatte teilgenommen und an die Okkupation Lettlands durch die Sowjetunion erinnert hatte: „Werden Sie dadurch ein größerer Patriot? Werden Sie deshalb von mehr Ländern unterstützt, dass Sie noch hundert Mal das Gleiche wiederholen, das schon längst gesagt ist? Ihnen, Herr Kols, als junger Mensch, stünde es an, ein Visionär zu sein, über die Zukunft zu sprechen, darüber, wie Sie die lettische Außenpolitik und Lettlands Position in der Welt in der Zukunft sehen, aber nicht das, was wir von Ihnen hörten. Wir hörten von Ihnen auch keinen einzigen Vorschlag zur Ökonomie. Wir sprechen über Wladimir Putin. Nun, wie lange wird Wladimir Putin noch Russlands Präsident sein? Ich denke, nicht allzu lange Zeit. Jedenfalls haben Sie die Möglichkeit, viel länger Politik zu betreiben, deshalb müssten Sie als Machtpolitiker eine Vision für die Zukunft formulieren.“




 
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