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Lettland: 13. Januar - Aktionen und Kommentare zum Jahrestag des Krawalls
14.01.2010


Letten thematisieren die GlobalisierungVor einem Jahr zogen Jugendliche nach einer friedlichen Großdemonstration auf dem Rigaer Domplatz vor das Parlament, um ihren Protest gegen das politische Establishment gewaltsam zu bekunden. Am Abend des 13.1.09 gingen Fensterscheiben der Saeima zu Bruch, einige Polizeiautos wurden zerstört oder beschädigt. Dabei wurden 41 Menschen verletzt, mehr als 100 verhaftet. Die Berliner Polizei wäre nach einer 1.-Mai-Demo vermutlich froh über eine solch vergleichsweise geringe Schadensbilanz. Für Letten bedeutete diese Gewaltbekundung dagegen eine neue Erfahrung. Viele Bürger kritisierten Steinewerfen oder Prügeleien als Aktionsformen, die Leib und Leben Unschuldiger gefährden. Letten sind der Ansicht, dass Gewalt nicht zu ihrer Mentalität passt. Schließlich haben sie schon ihre staatliche Unabhängigkeit von 1989 bis 1991 mit gewaltlosen Mitteln erkämpft. Andererseits zeigte der 13. Januar die Brisanz einer aussichtslos erscheinenden wirtschaftlichen und politischen Situation. Jugendliche sehen ihre Zukunft in einem Land gefährdet, das unter dem Spardiktat des Internationalen Währungsfonds steht. Die Antiglobalisten protestierten nun an diesem Jahrestag vor der Parex-Bank, die der Staat im November 2008 mit cirka einer Milliarde Euro vor der Pleite bewahrte. Die Zeltstädter vor dem Regierungskabinett verbreitern ihren Protest.
Auch Letten entdecken den globalen Aspekt der Krise. Doch der Protest der Antiglobalisti hat problematische Seiten. Foto: www.antiglobalisti.lv
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Laut delfi.lv demonstrierten zirka 20 Antiglobalisten, die von einer größeren Anzahl Polizisten überprüft und bewacht wurden, vor einer Filiale der Parex-Bank in Riga. Auf ihrer Webseite antiglobalisti.lv forderten sie die Bevölkerung auf, sich unter dem Motto „Protestbekundung im Zusammenhang mit der Übernahme der Parex-Bank ungeachtet der Volksmeinung“ zu versammeln. Diena.lv meldete, dass sich der Chef der Polizeigewerkschaft, Agris S?na, an der Aktion beteiligte. Er erklärte vor dem kleinen Häufchen Protestler, dass die Parex-Bank ein schwarzes Loch im lettischen Finanzsystem bilde. Er sei überzeugt, dass in keinem anderen Land der Welt die Möglichkeit bestehe, dass zwei Bankbesitzer ihr Unternehmen in die Pleite führten und dann vom Staat gerettet würden. (Er kennt offenbar die Verhältnisse in Deutschland nicht.) Wie viele staatliche Bedienstete müssen sich auch Polizisten seit der Parex-Krise wieder mit Mini-Gehältern begnügen. In den letzten Jahren zeigt sich ein wachsendes Misstrauen der Bevölkerung gegen die Politiker im Parlament und in den rasch wechselnden Regierungen. Doch meistens blieb es bei der geballten Faust in der Tasche oder bei ebenso abfälligen wie pauschalen Bewertungen in Meinungsumfragen. Allerdings dürften auch unausgegorene Deutungsversuche, die man auf der Webseite der Antiglobalisten findet, manche Interessierte diesmal daran gehindert haben, sich am Anti-Parex-Protest zu beteiligen.

Antisemitische Züge gefährden das Ansehen lettischer Globalisierungskritiker

Ich danke Herrn Andris Orols, dass er mir die Erlaubnis erteilte, die Fotos seiner Webseite zu verwenden. Dass mein Bericht über seine Initiative nicht ganz in seinem Sinne ausfallen würde, war mir zum Zeitpunkt der Anfrage noch nicht klar. Unter anderem steht auf dem Plakat rechts: "Für Parex-Banker und Synagogen reicht das Geld, doch für das Volk - nicht!" Foto: www.antiglobalisti.lv

 

So verbreitet Andris Orols, Initiator der Antiglobalisten, auf der genannten Webseite in seinem Aufsatz „Slepeni, slepeni, slepeni, slepeni... (jeb aisberga neredzam? da?a)/ Geheim, geheim, geheim, geheim… (oder der unsichtbare Teil des Eisbergs)“ fragwürdige Verschwörungstheorien. Demnach sei das Elend der Weltgeschichte auf die totalitären Machtansprüche geheimer Logen und Bündnisse wie den Illuminaten zurückzuführen, die auch heute noch ihr Unwesen trieben und gerade kleine Staaten wie Lettland ins Verderben stürzten. Jesuiten, Illuminaten, Geheimlogen, Marxisten und Kapitalisten spielen in dieser pikanten Weltanschauung, die im Westen kein seriöser Wissenschaftler ernstnimmt, eine gleichsam üble Rolle und oft seien an solchen Machenschaften Juden beteiligt. So wundert es nicht, dass die Diena-Journalisten auf der kleinen Kundgebung antisemitische Plakate entdeckten. Schließlich ist einer der beiden Bankbesitzer, Viktors Krasovickis, jüdischer Herkunft. Diese Religionszugehörigkeit reicht offenbar manch schlichten Gemütern zur Erklärung des Weltgeschehens. Ob solche Ansichten als Kinderkrankheiten einer entstehenden globalisierungskritischen Bewegung zu verbuchen sind oder ob dahinter rechtsradikale Absicht steckt, muss die Zukunft zeigen. Die nächste Aktion ist vor Krasovickis` Anwesen im Villenvorort J?rmala geplant.

Ungeteilten Zuspruch finden hingegen die Bewohner des Zeltlagers, das seit dem 30. November vor dem Gebäude des Regierungskabinetts entstanden ist. Sie harren in der Kälte aus, um auf das Schicksal der Erwerbslosen hinzuweisen und fordern von der Regierung eine sozialere Politik. Die Bevölkerung versorgt die Unerschrockenen mit Lebensmitteln, Brennholz und Medikamenten. Seit dem 12. Januar verbreitet sich dieser sympathieträchtige und friedliche Extremprotest: Zwei der Zeltstädter, N?rs Siders und Rustams Zagromovs, verlagerten ihren Sitz, bestehend aus einem Brennofen und zwei Stühlen, zum Parlamentsgebäude, der Saeima. Sie stellen den Parlamentariern die Frage, wann sie ihre eigenen Diäten senken. Der Bevölkerung haben die Volksvertreter bereits drastische Gehaltskürzungen auferlegt. In einem Bericht der LTV1-Nachrichtensendung Panorama vom 12.1.10 kritisierte Siders auch das Verhalten mancher Mitbürger: Sie ließen sich von sinnlosen Fernsehshows einlullen, statt nachzudenken und politisch aktiv zu werden. Zagromovs beurteilte seine persönliche Lage als gar nicht so schlecht: Er habe schließlich die Möglichkeit, in Schweden zu arbeiten, doch für viele Mitbürger sehe er keine Zukunft.

Interesse an den politischen Extremcampern bekundete auch Staatspräsident Valdis Zatlers, der Mitte Dezember ihre Behausungen besuchte. In einem Interview, das das Nachrichtenportal delfi.lv am 13.1. verbreitete, zog Zatlers Bilanz, bezogen auf den Krawall des Vorjahres kommentierte er:  „Ich glaube, dass wir verstanden haben, dass diese Art des Protests keine Lösung ist – die Wirtschaft werden wir auf diese Weise nicht reanimieren. Eine der Lehren wurde deutlich – es muss eine aktive und beständige Diskussion mit gesellschaftlichen Gruppen erfolgen.“ Politiker könnten nicht länger nur in den eigenen Kreisen diskutieren, sondern müssten sich mit Vertretern gesellschaftlicher Gruppen auseinandersetzen.

Zatlers vereinigt sich mit der Menge

Staatspräsident Valdis Zatlers, Foto: "Slideshow bob" auf Wikimedia Commons

 

Der Präsident räumt ein, dass das Vertrauen der Letten in ihre Politiker immer noch gering sei. Doch man könne es durch die Annahme konsequenter  Beschlüsse nach einer längeren Periode wieder erhöhen. Im letzten Jahr seien wechselnde, chaotische und unerklärte Beschlüsse der Regierung ein Teil der Stolpersteine auf dem Weg gewesen, das Verständnis der Bevölkerung zu gewinnen.

Zugleich lobte Zatlers das verstärkte Bürger-Engagement, dass er 2009 beobachtet habe. Es sei ein Jahr der Selbstorganisation gewesen. „Auch viele Wohltätigkeitsaktionen zeigten, dass die Menschen bereit sind, nicht nur ihre finanziellen Mittel in schwieriger Zeit zu teilen, sondern auch ihr Wissen und ihre Talente.“ Er nannte das Projekt „Die Großen für ein Kinderkrankenhaus“ als Beispiel. Durchweg anerkennend müsse man die Bestrebungen der Bevölkerung werten, Nachbarn, Verwandten, Schulen und Krankenhäuser zu unterstützen, nicht darauf hoffend, dass der Staat seine helfende Hand reiche.

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In einigen Wochen werden auch in Lettland zarte Pflänzchen, Schneeglöckchen und Krokusse, den eisigen Boden durchbrechen. Vielleicht wird mit ihnen auch ein verbessertes kommunikatives Handeln heranwachsen, mit dem Demokratie erst gelingt. Friedfertige und wagemutige Zeltprotestler und gewogene Worte des Staatsoberhaupts setzen zumindest Zeichen der Hoffnung.




 
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