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Lettland: Staatspräsident Andris B?rzi?š bezweifelt Statistiken, die soziale Ungleichheit bekunden
10.11.2012


Kleidermarkt in SaldusB?rzi?š löste mit einem Interview, das er den Journalisten des TV-Politmagazins Nek? person?ga am 4.11.12 gab, eine Debatte über Armut und Reichtum aus. Er misstraue dem Gini-Index. Diese Statistik beziffert die ungleiche Einkommensverteilung. Laut Eurostat weist Lettland die größte Ungleichheit aller EU-Staaten auf. Der Präsident bezweifelt solche Angaben und auch die Art ihrer Erhebung. „Dennoch muss man eine Methode finden, wie man die Realeinkommen der Menschen präziser einschätzt. Wir haben kein wirklich klares Verständnis. Davon bin ich völlig überzeugt.“ Die Weigerung des Staatsoberhaupts, unrühmliche Zahlen über die soziale Situation zu akzeptieren, löst in den lettischen Medien rege Debatten aus. Journalisten und Politiker widersprechen B?rzi?š, der sich nur ungern als `reichster Rentner` Lettlands bezeichnen lässt. Sie werfen dem Ex-Banker vor, die soziale Realität weiter Bevölkerungskreise nicht zu kennen.

Die Lebensbedingungen in Lettland gestalten sich je nach Einkommenslage recht unterschiedlich. Kleidermarkt in der kurländischen Kleinstadt Saldus, Foto: LP

 

Lettland:  EU-Spitzenreiter der sozialen Ungleichheit

Die Frage nach der Verteilung des Reichtums trifft ins Mark einer Gesellschaftsordnung. Der Vorwurf „Neiddebatten“ zu schüren, tabuisiert das Thema weitgehend. Im Wust von Ranking-Tabellen muss man Statistiken, die Armut und Reichtum beziffern, wie die Nadel im Heuhaufen suchen. Die Statistiker von Eurostat berechnen den Unterschied zwischen Bürgern mit hohem und niedrigem Einkommen mit dem Gini-Index, der Werte zwischen 0 und 100 umfasst - Geringere Werte deuten auf gleichere Einkommensverteilung, höhere auf ungleichere: Bei einem Wert von 0 gehörte allen gleich viel, bei 100 besäße ein Reicher alles, der Rest der Bevölkerung hätte nichts. 2011 war Lettland in dieser Tabelle mit dem Wert von 35,2 wieder unrühmlicher EU-Spitzenreiter, zuvor hatte Litauen vorübergehend die Länder mit den höchsten Einkommensunterschieden angeführt. Doch kaum etwas ist relativer als die Einschätzung von Reichtum und Armut. Auf anderen Kontinenten ist nicht nur die absolute  Armut, sondern auch der Spalt zwischen Habenichtsen und Bestverdienern weitaus drastischer. Manche afrikanische und südamerikanische Länder sind mit Gini-Ziffern mit mehr als 50 oder 60 gekennzeichnet. Deutsche erstaunt das Ausmaß lettischer Armut, Letten dasjenige afrikanischer Länder, aber auch dasjenige Indiens, das mit einem ähnlichen Gini-Wert beziffert wird wie Lettland selbst. Objektive Kriterien, die B?rzi?š einfordert, werden offenbar nicht hinreichend ermittelt. Kritiker solcher Statistiken vermissen eine solide Datengrundlage, vieles basiere auf Einschätzungen, nicht alle Bevölkerungsgruppen würden erfasst. Ungeachtet solcher Einwände bietet diese internationale Statistik immerhin eine Diskussionsgrundlage für längst überfällige Fragen: Ist die Einkommensverteilung gerecht? Wieso gelingt es Regierungen, Politikern und Staatsbürgern in den meisten Staaten nicht, soziale und materielle Unterschiede, die viele als ungerecht einschätzen, deutlich zu verringern? Immerhin lieferte B?rzi?š` Zweifel - ungewollt - einen Anstoß zur Diskussion.



Gini-Index ausgewählter EU-Länder, Quelle: Eurostat

 

2010

2011

Lettland

36,1

35,2

Portugal

33,7

34,2

Spanien

33,9

34

Griechenland

32,9

33,6

Rumänien

33,3

33,2

Litauen

36,9

32,9

Estland

31,3

31,9

Deutschland

29,3

29

Österreich

26,1

26,3

Schweden

24,1

24,4

 

Ergebnis neoliberaler Wirtschaftspolitik

Die osteuropäischen Staaten erlangten ihre Unabhängigkeit in einer Phase, als niedrige Steuern, geringe Sozialausgaben und Privatisierung wirtschaftspolitisch in Mode waren. Die Regierungen in Tallinn, Vilnius und Riga führten die sogenannte „Flat-Tax“ ein. Das bedeutet: Prozentual werden arme und reiche Einkommensbezieher gleich besteuert. In Lettland muss jeder Gehaltsempfänger, ob arm oder wohlhabend, 25 Prozent Steuern zahlen. Der lettische Staat hat weniger Einnahmen als die meisten anderen EU-Länder und daher sind auch seine Sozialleistungen dürftiger. Lettische Politiker träumten einst davon, einen „Tigerstaat“ nach irischem Vorbild zu schaffen: Niedrige Steuern sollten Investoren anlocken. Doch Iveta Kažoka, Politologin der NRO Providus, betrachtet vagabundierendes, spekulatives Kapital als Problem und nicht als Lösung: Im Aufschwung führt es zur Blasenbildung, in der Rezession zieht es sich schnell zurück. Die lettische Bevölkerung sei heftigen Konjunkturschwankungen ausgesetzt, die der schmächtige lettische Sozialstaat nicht abfedere. Kažoka empfiehlt als Alternative das skandinavische Modell der Wohlfahrtsstaaten. Zwar erwähnt sie die Zweifel des Ökonomen Andris Strazds, der skandinavische Verhältnisse in Lettland für „ausgeträumt“ halte, weil die Bürger keine höheren Steuern akzeptierten. Doch ihrer Ansicht nach haben die Letten mittel- und langfristig keine andere Möglichkeit, wenn die Zufriedenheit im Lande steigen soll. Dass es um diese in der mittleren Baltenrepublik nicht gut bestellt ist, begründet Kažoka mit einem weiteren Index: Der Lebenszufriedenheitsskala der Universität Leicester, auf der Lettland in einer Liste von 178 Ländern hinter Burkina Faso und Äthiopien an 154. Stelle rangiert. Auch um die Objektivität dieser britischen Statistik mag gestritten werden. Glücks- und Zufriedenheitsforscher sind aber allgemein der Ansicht, dass in Ländern mit geringerer sozialer Ungleichheit die Bürger sich glücklicher und zufriedener fühlen.



Satisfaction with Life Index 2006 (englische Wikipedia):

Rang

 

1

Dänemark

2

Schweiz

3

Österreich

34

Kolumbien

35

Deutschland

139

Estland

153

Äthiopien

154

Lettland

155

Litauen

 

Der Präsident im luxuriösen Elfenbeinturm

B?rzi?š musste im TV-Interview auch seine hohen Einkünfte verteidigen, er gilt als reichster Rentner seines Landes. Er war elf Jahre lang Chef der SEB Unibanka und saß in diversen Aufsichtsräten. Als Präsident residiert er in den nächsten Jahren in der wieder errichteten Kaufmannsherrlichkeit des Schwarzhäupterhauses, sein eigentlicher Sitz, die Rigaer Burg, wird gerade renoviert. In der Nähe von C?sis liegt sein Landsitz verborgen. EU-Abgeordnete Sandra Kalniete bezweifelt, ob B?rzi?š überhaupt die Verhältnisse im Lande kenne: „Der Präsident befindet sich in der Situation, dass er allein in einem Elfenbeinturm ist. Zuvor arbeitete B?rzi?š lange Zeit in einer Bank, wo beträchtliche Geldsummen umlaufen und eine Bank ist auf ihre Art auch solch ein Elfenbeinturm. Vielleicht fehlt ihm einfach nur wirklicher Kontakt mit dem Volk.“ Es bestehe eine „riesige Barriere“ „zwischen dem Staatspräsidenten und den Menschen.“ Wenn er in die Provinz fahre, um das Volk zu treffen, sei das kein wirklicher Kontakt, es seien nur flüchtige Treffen. „Somit erscheint es mir, dass die Aussprüche des Präsidenten von seiner ziemlich großen Isolation herrühren.“ Der Isolierte scheint aber nicht vollends ignorant. So befürwortete er in einem anderen Fernsehinterview, das er bereits am 1.11.12 dem Fernsehsender LNT gab, die progressive Einkommenssteuer, wie sie sich auch Sozialministerin Ilze Vi??ele wünscht. Dies wäre ein erster notwendiger, aber längst nicht hinreichender Schritt zur Skandinavisierung Lettlands.

 

Externe Linkhinweise:

dw.de: Die globale Schere zwischen Reich und Arm

en.wikipedia.org: Satisfaction with Life Index

ir.lv: Prezidents ?sti netic nabadz?bai Latvij?

politika.lv: Atvainojiet, par ko? Ekonomikas roller coaster

puaro.lv: Kalniete: Valsts prezidents ir viens zilo?kaula torn?

puaro.lv: Bag?tais prezidents B?rzi?š nezin, cik daudz Latvijas iedz?vot?ju dz?vo tr?kum?

puaro.lv: Valsts prezidents atbalsta progres?v? nodok?a ieviešanu




 
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