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"Die Reaktionen sind eher ignorant" - Interview mit der LIZDA-Vorsitzenden Ingr?da Mikiško
02.07.2014


Gewerkschaftschefin Ingrida Mikisko Ingr?da Mikiško kommt so manchem Zuschauer lettischer Nachrichten bekannt vor. Sie ist die Vorsitzende der LIZDA, das bedeutet: Latvijas Izgl?t?bas un zin?tnes darbinieku arodbiedr?ba (Lettlands Gewerkschaft für die Beschäftigten in Bildung und Wissenschaft). In letzter Zeit musste sie vor lettischen TV-Kameras etliche Interviews geben. Ihre Kolleginnen und Kollegen wehren sich gegen die niedrige Bezahlung an den Schulen. In der Zeit der Parex-Bank-Pleite wurden ihre Gehälter massiv gekürzt. Im Mai demonstrierten 7000 Lehrerinnen und Lehrer für höhere Einkommen. Die Gewerkschaft droht mit Streik, wenn die Regierung die LIZDA-Forderungen weiterhin ignoriert. Die Lettische Presseschau sprach mit ihr über das Verhältnis ihrer Organisation zur Regierung, zur lettischen Gesellschaft und über den internationalen gewerkschaftlichen Austausch.

LIZDA-Vorsitzende Ingr?da Mikiško, Foto: LP

 

Angesichts der niedrigen Gehälter stellt sich die Frage, ob der lettische Staat die Arbeit seiner Lehrer nicht schätzt.

Ja, so scheint es. Allerdings ist das auch eine Folge der ökonomischen Krise, die die Pädagogen am heftigsten traf. Ihr Gehalt wurde auf die Hälfte gekürzt. Aber nun, wo wieder Wachstumsraten zu verzeichnen sind, wollen wir nicht zurückbleiben und unseren Anteil haben. Und das ist unsere Forderung, dass unsere Arbeit angemessen honoriert wird. Gleichzeitig erhöht die Regierung die Arbeitsanforderungen, damit den beruflichen Stress. Doch merkliche Gehaltserhöhungen stellt sie nicht in Aussicht. Wir verhandeln mit der Regierung und dem Bildungsministerium. Doch die Reaktionen sind eher ignorant. Wem das Gehalt zu niedrig sei, könne ja in die Privatwirtschaft gehen. Daher arbeiten in unseren Schulen Lehrer, die bereits Rentner sind. Die machen ihren Job recht gut, sind aber mit den neuen Techniken nicht mehr so vertraut.

 

Für junge Leute scheint der Lehrerberuf nicht interessant zu sein.

Das Gehaltssystem motiviert sie nicht, den Lehrerberuf zu ergreifen. Denn auch nach längerer beruflicher Tätigkeit steigt das Gehalt nicht. Lettland ist das einzige Land in Europa, wo erst nach zehn Jahren Lehrtätigkeit ein höheres Gehalt wegen der geleisteten Dienstjahre gezahlt wird. Wenn junge Lehrer von der Hochschule kommen, beginnen sie mit niedrigen Einkünften, die lange Zeit unverändert bleiben. Das ist natürlich schlecht, wenn man sein Leben planen und eine Familie gründen will. Da suchen sie nach anderen Möglichkeiten, mehr Geld zu verdienen.

 

Fehlen denn bereits Lehrer?

Nein, wir haben nur wenige Vakanzen. Lettland ist eines der wenigen Länder, das nicht vorschreibt, wie lange man dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen darf. Daher arbeitet im europäischen Vergleich in Lettland eine verhältnismäßig hohe Zahl als Rentner weiter. Das verzögert natürlich den Verjüngungsprozess und hindert junge Lehrer daran, eine Stelle zu finden. Ich möchte nicht behaupten, dass dies in jedem Fall die Unterrichtsqualität vermindert, doch es bedarf hier der Regulierung. Der staatliche Rechnungshof hat das Ministerium deswegen kritisiert, weil Hochschulabsolventen, die als Lehrer arbeiten wollen, keine Stelle finden. Das ist ein großes Minus, um das sich das Ministerium kümmern muss.

LIZDA-Logo auf einem Luftballon

LIZDA-Logo, Foto: lizda.lv

 

Weshalb ist die Situation für Lehrer auf dem Land schwierig?

Ein Grundproblem sind die beträchtlichen Gehaltsunterschiede. Das Prinzip ist: „Das Geld folgt den Schülern.“ Eine Schule mit vielen Schülern hat viel Geld, eine mit wenigen wenig. Die Lehrer sind praktisch die Geiseln des demographischen Wandels. Da sie die Kinder nicht alle selber gebären können, müssen sie mit denen vorliebnehmen, die vorhanden sind. Daher haben Lehrer in den Großstädten ein vergleichsweise hohes Gehalt, ihre Kollegen auf dem Land dagegen meistens ein recht niedriges. Und das kann faktisch nicht bleiben.

 

Wie ist die Haltung der Lehrer zu den Gewerkschaften?

In der Krisenzeit, als die Kollegen die Hälfte ihres Gehalts einbüßten, haben die Gewerkschaften Mitglieder verloren. Doch nun wird es geschätzt, dass wir aktiv für bessere Einkommen kämpfen. Insgesamt ist unsere Mitgliederzahl stabil geblieben, auch Dank unseres Bemühens, junge Lehrer zu gewinnen. Aber auch jene, die nicht Mitglied sind, begrüßen unseren Einsatz und unterstützen uns. Gewiss müssen wir uns um Verstärkung kümmern, um wirklich geeint Forderungen zu stellen. Doch das ist ein Prozess, der dauert.

 

Wäre LIZDA streikfähig?

Das ist in dieser Situation eine entscheidende Frage. Ich denke ja. Im Frühjahr haben wir uns mit Vertretern unserer Untergliederungen getroffen. Gewiss ist die Situation in den Regionen unterschiedlich. Auf dem Lande, wo die Pädagogen niedrige Gehälter haben, fürchten sie um ihren Arbeitsplatz, denn ihre Schule könnte geschlossen werden. Deshalb verhandeln wir auch mit dem Sozialministerium, um den betroffenen Pädagogen Zusatzqualifikationen zu finanzieren, damit sie auf dem Arbeitsmarkt bestehen können. Wir verhandeln über ein besseres Finanzierungsmodell, das den Lehrern mehr soziale Sicherheit gewährleistet. Auch ein Lehrer auf dem Land muss von seiner Arbeit leben können. Aber das Ministerium braucht lange, um Vorschläge zu entwickeln.

LIZDA-Proteste in der Rigaer Innenstadt

Vor einigen Wochen organisierte LIZDA eine Lehrerprotestdemo gegen niedrige Gehälter. Etwa 7000 nahmen teil. Das war eine der größten Protestkundgebungen der letzten Jahre. Auf dem Plakat lautet die Frage: "Müssen wir auch abhauen?"

 

Wie bewerten sie insgesamt die Sparpolitik der lettischen Regierung, ist es eine „Erfolgsgeschichte“?

Was wir von Gewerkschaftsseite beklagen: Wir erkennen nicht die strategischen Ziele der Regierungspolitik. Zwar existieren viele Pläne, aber es wird nicht deutlich, was das für die Bildung und Ausbildung der nächsten Jahre bedeutet. Für die Lehrer wäre es viel leichter, wenn sie wüssten, woran sie sind. Die Premierministerin hat der Bildungspolitik nicht oberste Priorität eingeräumt. Aber die ganze Ökonomie eines Landes basiert auf Bildung und Ausbildung seiner Bürger. Doch die Regierung kümmert sich lieber um anderes, das könnte böse Folgen haben. Das ist unser Vorwurf an diese Regierung, dass sie dieses Thema vernachlässigt.

 

Die Regierung kümmert sich lieber um anderes?

Nicht zu bestreiten ist: um wichtige Themen, wie z.B. die Sicherheitspolitik, die wichtig ist, wie die Lage in der Ukraine zeigt. Auch die sozialen Fragen wie etwa die niedrigen Renten sind wichtig. Doch das ist nur die eine Seite, man muss sich auch um die Zukunft kümmern. Also um Gesundheit und Bildung und eine ausgebildete Bevölkerung, die es versteht, Produkte zu entwickeln, die nicht nur in Lettland, sondern in ganz Europa gefragt sind. Dafür benötigen wir für Schulen und Hochschulen konkrete Ziele.

 

Wie ist das Ansehen der Gewerkschaften in der lettischen Öffentlichkeit? Stoßen ihre Forderungen auf Verständnis?

Nicht immer. Gewerkschaften werden noch als Überbleibsel aus sowjetischen Zeiten betrachtet. Damals organisierten sie Ferienaufenthalte und boten soziale Leistungen. Die Menschen betrachteten Gewerkschaften als Wohlfahrtsorganisationen. Es ist vielen noch nicht klar, dass die Aufgaben freier Gewerkschaften jetzt prinzipiell andere sind. Am aktivsten erweisen sich Arbeitnehmer im Bildungs- und Gesundheitsbereich. Dort versteht man schon besser, was unsere Aufgabe ist. In Deutschland gibt es öffentliches Verständnis, wenn eine Berufsgruppe sich für bessere Bezahlung einsetzt. Doch hierzulande sagen sich die Leute „Mein Lohn ist auch niedrig. Warum fordern die höhere Löhne für sich?“ Sie verstehen nicht, dass man sich für höhere Löhne gemeinsam einsetzen muss und dies keine individuelle Angelegenheit ist.

 

Fehlt es an Solidarität?

Ja, die fehlt. Aber es gibt auch gesetzliche Regelungen, die Solidarität erschweren. Wenn beispielsweise die Lehrer für bessere Bedingungen kämpfen, dürfen sie nicht von Gewerkschaftern anderer Berufssparten unterstützt werden. Mündlich können sie schon Solidarität äußern, aber sie dürfen sich nicht an Aktionen beteiligen.

LIZDA-Podiumsdiskussion

LIZDA-Podiumsdiskussion mit lettischen Politikern, Foto: lizda.lv

 

Der lettische Gesetzgeber kümmert sich nicht um die Belange von Gewerkschaftern?

Nein, eher nicht.

 

Haben sie Ansprechpartner unter den Politikern, die mit Gewerkschaftern sympathisieren?

Die Politiker wissen, dass Gewerkschafter eine Kraft darstellen, mit denen man rechnen muss und das wollen sie nicht wahrhaben. Aber vielleicht ist es auch eine Frage der Generationen und der politischen Kultur. Ein sozialer Dialog muss geführt werden. Da darf man Streit nicht scheuen und muss Kompromisse suchen. Die Erfahrungen beispielsweise aus Norwegen, den Niederlanden und Frankreich zeigen, wie wichtig der soziale Dialog ist. Es kann nicht so sein, dass von einer Seite Beschlüsse gefasst werden und dann ein Wunder geschieht. Man muss sich von beiden Seiten her auf ein gemeinsames Ziel einigen. Das werfen wir auch dem Bildungsministerium vor, nämlich dass die Fähigkeit zum sozialen Dialog fehlt. Dort sollte man sich auch Meinungen anhören, die der Ministerin nicht gefallen. Aus solchen Dialogen müssen beide Seiten einen Vorteil ziehen können.

 

Ist es aus gewerkschaftlicher Sicht ein Vorteil, dass Lettland vor zehn Jahren EU-Mitglied wurde?

Ich denke ja. Die Erfahrungen, die wir seitdem machen, unterscheiden sich beträchtlich von dem, was wir vor der Mitgliedschaft kannten. Wir treffen uns nun mit Kollegen aus anderen Ländern. Wir besprechen gemeinsam EU-Dokumente und überlegen, was zu tun ist. So können wir Druck auf die EU-Institutionen ausüben. Das ist alles recht positiv zu werten. So können wir uns an Diskussionen in internationalen Organisationen beteiligen. In Lettland fordern wir verschiedene Gruppen und einzelne Personen zum Bündnis auf, Elternverbände genauso wie einzelne Politiker. Gemeinsam versuchen wir, Lösungen zu finden. Dass wir so Gelegenheit haben, mit verschiedenen Organisationen europaweit zu kooperieren, ist ein großer Vorteil der EU-Mitgliedschaft.

 

Haben Sie auch Kontakte zu deutschen Gewerkschaften?

Wir haben schon Kontakte zu den Deutschen, doch diese könnten sich enger gestalten. Wir wünschten uns mehr Austausch. Wir wollen jede Gelegenheit nutzen, um von den Erfahrungen unserer Kollegen im Ausland zu lernen. Das hilft uns, Bildungspolitik mitzugestalten. Beispielsweise helfen uns Erfahrungen, die Kollegen aus anderen Ländern mit ihren Bildungsministerien gemacht haben. Daher wären wir über mehr Zusammenarbeit mit den Deutschen erfreut. Durch solchen internationalen Austausch erhalten wir neue Anregungen. Zum Beispiel sind so die sogenannten „Beschattungstage“ entstanden. Dann fordern wir Politiker auf, in den Unterricht zu kommen, einen Pädagogen zu „beschatten“. So sehen sie vor Ort, welche Probleme bestehen. Beispielsweise wurde es in einem Kindergarten im Sommer ziemlich heiß. Also luden wir einen Abgeordneten ein, ihn zu besuchen. Oder in einer Schule hatte nur ein Teil der Schüler Zugang zum Internet. Solche Missstände können dann schneller gelöst werden. Sonst unterhalten sich Politiker nur abstrakt über Schulen und Schülerzahlen. Auf diese Weise erfahren sie anschaulich, woran es fehlt.

Beschattungstage: Ein Politiker im Kindergarten

LIZDA-"Beschattuingstage", Politiker besuchen Schulen und Kindergärten, Foto: lizda.lv

 

Wie wird sich die Situation Lettlands in der EU weiter entwickeln? Wie die Situation der Lehrer?

Das ist eine Reihe von ökonomischen Fragen. Der Staat muss die unternehmerische Tätigkeit fördern. Es stellt sich die Frage nach einem neuen Steuermodell.

 

Befürwortet ihre Gewerkschaft die progressive Einkommenssteuer?

Wichtig ist, dass Lehrer bei geänderten Steuermodellen nichts hinzuzahlen, die Lehrergehälter sind dafür zu gering. Insgesamt unterstützen wir das Bemühen, die unternehmerische Tätigkeit zu fördern und neue Arbeitsplätze zu schaffen, damit junge Leute nicht weiterhin emigrieren müssen. Ob diese hierbleiben können, eine Stelle mit hinreichendem Einkommen finden, das ist eine entscheidende Frage. In Bezug auf Europa muss man feststellen: Die großen und reicheren Länder diktieren den kleinen die Politik.

 

Z.B. Deutschland?

Ja, auch Deutschland. Und das ist ein negativer Aspekt der EU, wenn man zum Beispiel sieht, was mit unseren Zuckerfabriken geschehen ist [die mussten auf Druck der EU geschlossen werden, U.B.]. Man sieht es z.B. auch daran, was in der Landwirtschaft geschieht [wo Lettland seit Jahren um höhere Subventionen aus Brüssel kämpft, weil lettische Bauern weniger Geld bekommen als ihre Konkurrenten in anderen EU-Ländern]. Die lettischen EU-Abgeordneten bemühen sich schon nach Kräften, für die Interessen ihres Landes einzustehen, doch im Vergleich zu den Deutschen sind sie eben eine kleine Gruppe.

 

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