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Litauer und Letten fürchten “Migrantenströme” aus Belarus
15.07.2021


“Das wird ein Zaun wie in Ungarn”

Alltagsszene im Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos, bevor es abbrannte, Foto: Faktengebunden, Eigenes Werk CC BY-SA 4.0, Link

 

In den letzten Wochen passierten jene, die in lettischen Medien als “Migranten” bezeichnet werden, in bislang nicht gekannter Zahl die Grenze von Belarus nach Litauen. Die Behörden des lettischen Nachbarn registrierten mehr als 1700 “illegale” Grenzübertritte. Im gesamten Vorjahr waren es 81. Die Litauer erklärten für ihre Grenzposten den Ausnahmezustand und begannen, 550 Kilometer der Grenze zu Belarus mit Stacheldraht zu festigen. Am 13. Juli 2021 beschlossen litauische Parlamentarier fast einstimmig ein Gesetz, dass es den Grenztruppen ermöglicht, Menschen, die des illegalen Grenzübertritts bezichtigt werden, für mindestens ein halbes Jahr festzusetzen. Litauische Nichtregierungsorganisationen bezweifeln, ob dieses Gesetz den Menschenrechten und der litauischen Verfassung entspricht (lsm.lv). Die Balten halten die “Flüchtlingswelle” für die Rache des Lukaschenko-Regimes, weil die EU mit Sanktionen auf die Unterdrückung der belarussischen Opposition reagiert hat. Sie werfen dem Machthaber in Minsk vor, den massenhaften “illegalen” Grenzübertritt gezielt zu organisieren. Lettische Grenzbeamte haben noch keine Vorkommnisse wie im Nachbarland beobachtet, aber sie zeigen sich alarmiert und werden durch Kräfte der lettischen Nationalgarde und durch die umstrittene Organisation Frontex unterstützt.


Der EU-Deal mit Lukaschenko

Bereits im Mai 2021 warnte der belarussische Außenminister Wladimir Makej Brüssel davor, dass seine Regierung “die Zusammenarbeit mit der EU bei der Bekämpfung der illegalen Migration” aufkündigen könne (LP: hier). Die Taz hatte 2017 von einem geheim gehaltenen Abkommen berichtet. Demnach bezahlte die EU dem offiziell kritisierten Lukaschenko-Regime sieben Millionen Euro, damit es auf eigenem Territorium “Unterbringungseinrichtungen für Migranten” errichtet. Im Januar 2020 unterzeichneten Vertreter der EU und Belarus ein Rückübernahmeabkommen für “Drittstaatsangehörige”, das die EU verpflichtet, Belarus “technische und finanzielle Unterstützung in diesem Bereich zu gewähren,” berichtete damals die staatliche belarussische Nachrichtenagentur Belta (belta.by). Die EU-Kommission versicherte in diesem Zusammenhang: “In den Abkommen erkennen die Vertragsparteien die Bedeutung der Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten – einschließlich der Achtung der Menschenrechte und der demokratischen Grundsätze – an, die sich aus den für sie geltenden internationalen Übereinkünften ergeben.” (ec.europa.eu) Folglich gehörte Belarus bislang zu dem Kreis von Pufferstaaten, die der EU Geflüchtete und Migranten von den eigenen Außengrenzen fernhalten.


Der belarussische Diktator will diese Aufgabe nun nicht mehr erfüllen und lässt sich auf Belta zitieren: "Aber wenn jemand glaubt, dass wir die Grenze zu Polen, Litauen, Lettland und der Ukraine schließen und zu einem `Abladeplatz` für Flüchtlinge aus Afghanistan, dem Iran, dem Irak, Libyen, Syrien, Tunesien werden, dann irrt er sich. Wir werden keine anhalten: Sie kommen nicht zu uns. Sie sind unterwegs in das aufgeklärte, warme und gemütliche Europa. Europa, wo es an Arbeitskräften mangelt, hat einerseits diese Menschen hergebeten. Auf der anderen Seite hat Europa diese Länder vernichtet. Afghanistan wurde praktisch zerstört, die US-Truppen abgezogen. [...] Die Menschen fliehen vor Leid, Unglück und Krieg. Europa will, dass wir sie hier aufnehmen und in `Konzentrationslagern` unterbringen. Das werden wir nicht tun, insbesondere wenn Sie eine solche Politik gegenüber Belarus und der Russischen Föderation betreiben. Die Menschen fliehen vor dem Krieg dorthin, wohin sie eingeladen werden. Die Europäische Union hat doch für die Geflüchteten gewisse Privilegien eingeführt." (belta.by)


Hybridaggression”

Die litauische Regierung drängte darauf, Sanktionen gegen Belarus zu beschließen. Sie streitet aus mehreren Gründen mit dem Nachbarn. Im November 2020 ließ das Lukaschenko-Regime ein Akw an der Grenze zu Litauen in Betrieb nehmen, das von Russland gebaut und mit russischem Kredit finanziert wurde. Die Litauer fürchten, dass im Falle eines radioaktiven Super-Gaus die eigene Hauptstadt Vilnius unbewohnbar werden könnte, denn sie liegt nur 50 Kilometer vom Kraftwerk entfernt. In der litauischen Stadt Kaunas hat die weißrussische Exilregierung Rada BNR ihren Sitz. Dieses Gremium existiert seit 1919 und opponiert gegen das Regime in Minsk. Die belarussische Bürgerrechtlerin Swjatlana Zichanouskaja, die letztes Jahr gegen Lukaschenko kandidierte, brachte sich in Litauen in Sicherheit. Das alles dürfte den belarussischen Machthabern missfallen.  


Ingrida Simonite, die Premierministerin Litauens, beschuldigt belarussische Behörden, “illegale Migration” in ihr Land zu organisieren und wertet die Grenzvorkommnisse als “Hybridaggression”, die sich nicht nur gegen Litauen, sondern gegen die gesamte EU richte: “Wir sind überzeugt, dass die Institutionen des weißrussischen Regimes aktiv und passiv in der Organisation illegaler Migrantenströme verwickelt sind. Das Ziel dieser Aktionen ist es, unseren Ländern Schaden zuzufügen und die Lage zu destabilisieren.” (lsm.lv) Latvijas Radio 1 sprach mit einem litauischen Grenzer, der aussagte, dass “Migranten” mit Direktflügen aus Bagdad oder Istanbul in Minsk ankämen, um nach kurzer Zeit an die litauische Grenze gebracht zu werden. Litauische Journalisten berichteteten, dass Betroffene für eine Fahrt zur EU-Grenze 1400 Euro bezahlt hätten.  


Über das, was Lukaschenko noch im Schilde führt, wird in den lettischen Medien spekuliert. Der belarussische Oppositionelle Pavels Latusko, der sich im polnischen Exil befindet, warnt davor, dass Lukaschenko zukünftig versuchen könne, Drogen und radioaktives Material in die EU einzuschleusen. In Menschen, die die litauische Grenze überschreiten, sieht er vor allem eine Gefahr: “Gemäß den verfügbaren Informationen befinden sich inmitten der Migranten Menschen, die militärische Erfahrungen in den brenzligsten Situationen haben, und Geheimdienstmitarbeiter, deren Aufgabe es ist, besondere Operationen vorwiegend auf dem Territorium der EU-Mitgliedstaaten vorzubereiten.” Beate Livdanska, die der Denkfabrik “Forschungszentrum für osteuropäische Politik” (APPC) angehört, bezweifelt allerdings das Gerücht, dass Wladimir Putin hinter den Grenzvorkommnissen stecke, dafür gebe es bislang keine Beweise (lsm.lv).


Das Stereotyp vom getäuschten Migranten

LSM-Journalist Uldis Kezberis berichtete über die Probleme im Nachbarland und glaubt, die Beweggründe für die “Rekordzahl illegaler Migranten” zu kennen: “Viele der nach Litauen gekommenen Migranten verschweigen nicht, dass sie nicht vor Krieg oder Gewalt flüchteten, sondern bessere Lebensbedingungen suchen. Deshalb hoffen sie, dass sie es schaffen, weiter nach Westeuropa zu gelangen.” (lsm.lv) - Das Wort “viele” wird im Artikel nicht weiter quantifiziert. An der Grenze gebe es Sprachprobleme, weil die Grenzübertreter kein Englisch beherrschten. Die Mehrheit von ihnen gingen davon aus, dass ihnen automatisch Asyl gewährt werde. Obwohl der Status der Obdachsuchenden noch gar nicht geklärt ist, werden sie von den lettischen Medien durchweg als “Migranten” bezeichnet. Laut Kezberis stamme der größte Teil von ihnen aus dem Irak, also aus dem Land, das sich im Chaos befindet, seitdem es von der “Koalition der Willigen” angegriffen wurde, ein Krieg, an dem sich auch litauisches und lettisches Militär beteiligte. Nahostexperte Michael Lüders ist der Überzeugung, dass den Irakerinnen und Irakern ohne diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg islamistischer Terror und “Islamischer Staat” erspart geblieben wäre (youtube.com).


LSM-Journalist Gints Amolins berichtet lieber über einen Fall, der ins Stereotyp passt, von einem 27jährigen Migranten aus der französischen Ex-Kolonie Senegal: “Vor der Kamera spricht er nicht, doch interessiert fragt er, wer neuer Europameister im Fußball ist, seit dem Eintreffen [in Litauen] habe er weder Telefon noch Fernsehen. Mendijs erzählt, dass er in Weißrussland neun Monate gelebt habe, in Mahiljou. Im Senegal habe ihm irgendein Agent versprochen, studieren zu können, es Arbeit gebe, doch es gab überhaupt keine Arbeit. Deshalb habe er nun zu Fuß die Grenze nach Litauen überquert, er möchte weiter nach Frankreich. Weitere Details gibt er nicht preis.” (lsm.lv)


Festung Europa wird weiter ausgebaut

Die litauische Regierung lässt seit dem 9. Juli 2021 die Grenze zu Belarus auf einer 550 Kilometer langen Strecke mit Zaun und Stacheldraht befestigen; die Anlage soll 41 Millionen Euro kosten. Laurins Kasciuns, Vorsitzender des Komitees für nationale Sicherheit und Verteidigung des litauischen Parlaments, erläutert das Vorhaben: “Das wird ein Zaun wie in Ungarn. Ein Doppelzaun. Aber das erfordert natürlich Zeit und Ressourcen.” Kasciuns fügt hinzu, dass Litauen den Zaun auch im Interesse Westeuropas errichtet. Es werde nicht so leicht sein, von Litauen aus nach Westeuropa zu gelangen und er gibt den “Migranten” eine Botschaft auf den Weg: “Wir gestatten es nicht, dass sich ein neuer Transitkorridor bildet. Ihr werdet im Lager leben, im Aufenthaltszentrum. Die Bewegungsfreiheit wird eingeschränkt.”(lsm.lv) Zudem setzt Litauen auf die “europäische Solidarität”, womit der Einsatz der umstrittenen EU-Grenzschutzagentur Frontex gemeint ist, die von Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen wegen der Beteiligung an “illegalen Push-Backs” scharf kritisiert wird (amnesty.de).


Lettische Grenzer sind alarmiert, obwohl sie bislang keine vermehrten Grenzübertritte aus Belarus beobachteten. Aber sie sind durch die Situation im Nachbarland gewarnt. Auch Lettland grenzt auf 173 Kilometern an Belarus. Egons Mezaks, ein Vertreter des lettischen Grenzschutzes, befindet, dass diese Grenze noch nicht wie jene zu Russland “modernisiert” sei, womit er hohe Grenzzäune, Stacheldraht und Überwachungsgeräte meint. Deshalb müsse man verstärkt auf Personal setzen. Deshalb sollen seine Kollegen fortan von 50 Nationalgardisten unterstützt werden. An der Grenze werde mit Hunden und Quad-Fahrzeugen patroulliert. Auch der lettische Grenzschutz setzt auf “europäische Solidarität”, also auf Frontex (lsm.lv).


Der eingeschaltete Panikmodus

Journalist Juris Lorencs fasst zusammen: “Die weltweite Erfahrung bestätigt, dass die Länder, die Flüchtlinge aufnehmen, stets die Opfer sind. Denn Flüchtlinge bedeuten automatisch eine ökonomische Last, Sicherheitsprobleme, eingeschleppte Krankheiten, Anstieg der Verbrechen und innenpolitische Destabilität. Zudem Risiken für die Reputation des Landes. Denn stets kann man irgendeinen Unzufriedenen oder Beleidigten abfotografieren, der schreit: Man verletzt mich, man diskriminiert mich, wo sind meine Menschenrechte!” (latviesi.com)


Die stereotype, ausschnitthafte und zusammenhanglose Berichterstattung in den lettischen Medien - über das Schicksal der Geflüchteten auf Lesbos beispielsweise wird recht sporadisch berichtet - hat Folgen: Unter den Artikeln zur “Migration” sammeln sich die fremdenfeindlichen und rassistischen Kommentare. Karl Kopp, Sprecher der Geflüchtetenorganisation “Pro Asyl”, bewertet auf Anfrage der Lettischen Presseschau die westliche Asylpolitik äußerst kritisch. Die EU und ihre Mitgliedstaaten machten nicht nur schmutzige Deals mit autoritären Regimen, um Schutzsuchende abzuwehren, sondern entwickelten “im Zuge der Notstandsrhetorik (Griechenland, Italien, Spanien, etc. jetzt Litauen) auch die Bereitschaft, mit Gewalt, Stacheldraht, völkerrechtswidrigen Push Backs an den Grenzen etc. die `hässlichen Bilder`, wie von Orban und Kurz gewünscht, der Abwehr und Abschreckung selbst zu produzieren. Das Notstandsgerede, die martialische Aufrüstung, der Frontex-Einsatz nach Ankunft von knapp 1400 Menschen in diesem Jahr, zeigt, dass Europa von gemeinsamer Grenze schwadroniert und den Panikmodus einschaltet. Würden wir von einem gemeinsamen und solidarischen Schutzsystem, einem gemeinsamen Asylrecht oder gar von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit reden, gäbe es nur eine Notlage von Schutzsuchenden, die gemeinsam und menschenwürdig abzuwenden ist."  

UB 




 
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