Lettisches Centrum Münster e.V.

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Das Corona-Dilemma: Neuer Streit in der lettischen Regierung
19.02.2021


Unklarer Kurs zwischen Lockerung und Lockdown

Wirtschaftsminister Vitenbergs will wieder die Geschäfte öffnen, Foto: Saeima, CC BY-SA 2.0, Saite

Der sich anbahnende Konflikt zwischen Gesundheitsminister Daniels Pavluts (Attistibai/Par) und Wirtschaftsminister Janis Vitenbergs (KPV) verdeutlicht exemplarisch die Zwickmühle, in der sich Politiker während einer Pandemie befinden. Die Ressorts der Minister stehen für gegensätzliche Interessen: Scharfer Lockdown für die Gesundheit oder Lockerung für das wirtschaftliche Überleben? Ministerpräsident Krisjanis Karins (Jauna Vienotiba) hält die schlechten Umfragewerte seiner Regierung für “objektiv begründet”.


Für Rigas Handel sind mehr als ein Dutzend großräumiger Einkaufszentren charakteristisch, wo Kunden ein überdachtes Viertel voller Läden und Restaurants vorfinden. Die Vermieter solcher Läden schlagen nun Alarm und hissen in einer gemeinsamen Aktion auf ihren Parkplätzen weiße Flaggen. Seit dem 19. Dezember 2020 müssen Geschäfte geschlossen bleiben, die weder Lebensmittel, Arzneien, Medizinisches, Brennstoffe noch Bücher verkaufen.


Martins Vanags, Vertreter eines Immobilien-Verbandes, fordert von der Regierung, dass der Staat die ausfallenden Pacht- und Mietzahlungen ersetzen soll. Derzeit gewährten die Eigentümer der Geschäftsräume den Ladeninhabern Nachlässe bis zu 100 Prozent. Dennoch stünden viele von ihnen kurz vor der Pleite, denn Steuern und Kreditraten müssten sie trotz fehlender Einnahmen weiterhin begleichen. Vanags beziffert, dass sich die Besucherzahl in den Einkaufszentren in diesem Januar um 70 Prozent im Vergleich zum Januar 2020 verringert hat. (la.lv)


Pandemie und Lockdown ruinieren nicht nur wirtschaftliche Existenzen, sie belasten zudem die Psyche von Kindern und Jugendlichen. Die LSM-Redaktion berichtet, dass die psychiatrische Abteilung der Rigaer Kinderklinik im letzten Jahr 20 Prozent mehr Patienten hatte als im Vorjahr. Davon seien 55 Prozent Notaufnahmen gewesen. Abteilungsleiter Nikita Bezborodovs sieht zwar einerseits die Zunahme darin begründet, dass sich Eltern immer häufiger an Psychiater wendeten, weil psychische Störungen nach und nach entstigmatisiert würden. “Dennoch sehen wir, dass die gegenwärtige Situation in der Abteilung direkt von der Pandemie und den mit ihr verbundenen Beschränkungen geprägt ist. Im Alter der Heranwachsenden spielt die Kommunikation mit Gleichaltrigen eine besonders wichtige Rolle in der Identitätsfindung und in der Bewahrung des Selbstwertgefühls der Jugendlichen. Derzeit, wenn unter dem Einfluss der Covid-19-Pandemie ihre Möglichkeiten mit Freunden und anderen Jugendlichen Kontakte zu halten, begrenzt sind, leidet ihre Psyche.” (lsm.lv)


Dem gegenüber stehen die alarmierenden Zahlen der Epidemiologen. Am 17. Februar 2021 hatte Lettland die Schwelle von 1500 Covid-19-Toten übertroffen (lsm.lv). Seit vielen Wochen erreicht die tägliche Zahl der Neuinfektionen einen höheren dreistelligen, zuweilen vierstelligen Wert. Zwar flacht die Infektionskurve nach einem Lockdown, der zuweilen sogar nächtliche Ausgangsverbote umfasste, leicht ab, aber es nicht vorherzusehen, ob Lettland gegen die Verbreitung infektiöserer Mutationen gewappnet ist. In der europäischen Rangliste der 14-Tage-Inzidenz rangiert Lettland weit oben. Die Insassen von Alten- und Pflegeheimen sind besonders gefährdet, aber zuweilen trifft es auch Jüngere heftig. Das Ärzte- und Pflegepersonal arbeitet im Ausnahmezustand, die ohnehin langen Wartelisten in lettischen Kliniken und Praxen verlängern sich weiter.  


Wirtschaftsminister Vitenbergs verkündete am 19. Februar 2021 der Presse, dem Kabinett am nächsten Dienstag vorzuschlagen, alle Geschäfte wieder zu öffnen. Bis vor zwei Wochen durften Händler in noch offenen Läden nur bestimmte Ware verkaufen und den Rest des Sortiments mussten sie absperren. Der Minister will die Warenlisten nun vollständig abschaffen, statt dessen ein Sicherheitskonzept einführen, mit dem alle Läden wieder öffnen und wieder alles verkaufen können. In bestimmten Läden sind die Beschränkung des Sortiments aufgehoben und anstelle dessen ergänzende Sicherheitsbestimmungen eingeführt und überprüft worden. Das Ministerium habe die gelockerte Praxis ausgewertet. Das neue Konzept bewähre sich. Dazu gehört beispielsweise die elektronische Überwachung der Besucherströme innerhalb der Shopping-Center. Vitenbergs fügt hinzu: “Die Unternehmer der Handelsbranche haben Verständnis für alle Regierungsbeschlüsse und handeln sozial verantwortlich gegenüber ihren Kunden, den Angestellten und der Gesellschaft im Ganzen. Deshalb bin ich bereit, die Öffnung aller Geschäfte vorzuschlagen.”


Dieser unabgesprochene Vorstoß missfällt dem Kabinettskollegen Daniels Pavluts (nra.lv). Er hält Vitenbergs` Vorschlag für “verantwortungslos”. Das sei nicht der Weg, den man beschreiten könne. In dieser Art ließe sich nicht mit der öffentlichen Meinung umgehen, denn es sei völlig offensichtlich, dass man nicht den ganzen Handel öffnen könne. Die Regierung müsse mit einer Sprache sprechen. In der nächsten Kabinettssitzung bahnt sich offenbar neuer Streit an, diesmal zwischen dem Wirtschaftsminister und dem Gesundheitsminister, der in einer vormaligen Regierung selbst als Wirtschaftsminister amtierte.


Ministerpräsident Krisjanis Karins regiert nun seit fast zwei Jahren mit einer fragilen Fünferkoalition aus rechtsliberalen und nationalkonservativen Parteien, deren Hauptzweck darin besteht, die sozialdemokratische Opposition, die als Vertreterin der russischsprachigen Minderheit gilt, von der Macht auszuschließen. Während in Deutschland die Krise von Beobachtern als “Stunde der Exekutive” gewertet wird, in der die Bundesregierung ihre Beliebtheit steigert, erfolgt in Lettland das Gegenteil: Seit ihres fast zweijährigen Bestehens war die Regierungskoalition noch nie so unbeliebt, 37 Prozent der Befragten, die sich an der letzten SKDS-Umfrage beteiligten, äußerten sich als “sehr unzufrieden”. Schon im Frühjahr 2020, als das Kabinett erste Pandemie-Bestimmungen beschloss, verringerte sich die Zustimmung (diena.lv).


Karins sieht dafür “objektive Gründe”: Einerseits sei die Gesellschaft pandemiemüde, andererseits habe seine Regierung falsche Entscheidungen getroffen und zu zögerlich reagiert. Aber im Kabinett habe für rasches Handeln die Mehrheit gefehlt. “Der Entscheidungsprozess in der Regierung war sehr kompliziert. Das Resultat vom Ganzen ist, dass das Vertrauen in die Regierungsarbeit sich auf geringem Niveau befindet. Und das spüre ich.” Karins erwägt öffentliche Kabinettssitzungen, damit die Bürger Entscheidungen nachvollziehen können, um so Vertrauen zurückzugewinnen. Zudem müsse die Regierung fortan klarer bestimmen, wie mit der Pandemie zu leben ist und wie gleichzeitig die Firmen wieder ihre Arbeit aufnehmen können.

UB




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