Lettisches Centrum Münster e.V.

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Lettische Impfkrise: Gesundheitsminister Pavluts erwägt den Einsatz des russischen Impfstoffs Sputnik V
06.03.2021


“Entschuldigung, ich höre nur, dass wir schlafen”

Russischer Impfstoff Sputnik V, Foto: Mos.ru, CC-BY 4.0, Link

 

Ungarn nutzt ihn bereits, Tschechien und die Slowakei haben ihn bestellt. Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz hat in dieser Angelegenheit schon mit Wladimir Putin telefoniert, auch Deutschland und Spanien erwägen den Einsatz, falls die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) ihn zulässt: Den russischen Impfstoff Sputnik V(ictory), der als erster weltweit gegen Covid-19 verwendet wurde. Ob sein Name lediglich den Sieg über die Pandemie bezeichnet oder nach dem “Sputnik-Schock” der 50er Jahre einen erneuten Propaganda-Sieg über den Westen, sei dahingestellt. Der lettische Gesundheitsminister Daniels Pavluts kann sich im Falle einer Genehmigung durch die EMA durchaus vorstellen, dass Lettland den Stoff vom ungeliebten Nachbarn beziehen wird. Bislang wurde Sputnik V in westlichen Medien wegen der Kritik an mangelnder Erprobung teils beargwöhnt, teils ignoriert. Dass nun sogar die lettische Regierung Sputnik V in Betracht zieht, lässt die Anspannung der politischen Entscheidungsträger erahnen. Die investigative Redaktion von Re:Baltica recherchierte die Hintergründe, weshalb Lettland lange auf zusätzliche Impfstoffbestellungen verzichtet hat.


Im Februar publizierte das britische Fachmagazin The Lancet eine Studie, dass Sputnik V zu 91,6 Prozent wirksam sei. Das russische Mittel ist ähnlich effektiv wie westliche Produkte, die erst später und nach längeren Testphasen für Impfungen zugelassen wurden. Während Litauens Außenminister Gabrielus Landbergis das russische Produkt als “politisches Instrument des Kremls” bezeichnet, zeigen sich estnische und lettische Vertreter im Falle einer EMA-Genehmigung nicht abgeneigt. “Wir werden jede sichere und wissenschaftlich begründete Möglichkeit nutzen, um Gesundheit und Leben lettischer Bürger zu schützen. Die Verfügbarkeit von Impfstoffen zu einem konkreten Zeitpunkt wird ein wichtiger Faktor bei den Entscheidungen sein. Lettland hat bei sieben Herstellern bestellt und ab Jahresmitte wird die für Lettland verfügbare Menge an Impfstoffen bereits sehr groß sein,” so zitiert Diena-Journalistin Jolanta Plauka Gesundheitsminister Pavluts (diena.lv). Plauka führt noch einen speziell lettischen Grund an, weshalb der Minister Sputnik V in Betracht ziehen könnte: Das Mittel könne vielleicht auch jene überzeugen, die die Notwendigkeit der Impfung bezweifelten oder leugneten und die in einem anderen Informationsraum lebten. Damit könnten neben so manchen skurillen, sogenannten “alternativen” Medien im Internet auch die bevorzugten Informationsquellen der russischsprachigen Minderheit gemeint sein.  


Dass sich Lettland nicht der entschiedenen Haltung Litauens anschließt, macht die prekäre Lage sichtbar, in der sich die lettische Regierung befindet. Wie in Deutschland und vielen anderen Ländern der EU sind die Verantwortlichen im Zangengriff zwischen Forderungen aus der Bevölkerung, die Lockdowns endlich zu lockern und den Warnungen der Wissenschaftler, dass eine dritte Corona-Welle bevorstehen könnte. Hinzu kommt das hausgemachte Problem, monatelang auf Impfmittel-Bestellungen verzichtet zu haben. Dieser Verzicht ist derzeit ein Hauptthema der lettischen Corona-Politik; Re:Baltica recherchierte die Hintergründe und zitiert aus Kabinettsitzungen.


In einer dreiteiligen Serie rekonstruierten die Re:Baltica-Journalistinnen Sanita Jemberga und Inese Liepina den Hergang fragwürdiger Entscheidungen (lsm.lv). Im Juni 2020 einigte sich die EU-Kommission mit allen Mitgliedsländern darauf, Impfstoffe gemeinsam zu beziehen. Den nationalen Regierungen war es aber freigestellt, mit den Herstellern zusätzliche Lieferungen zu vereinbaren. Das bevorzugte Produkt schien zunächst Astrazeneca. Das Impfmittel war deutlich günstiger als das von Biontech/Pfizer und schien schneller verfügbar. Als besonderer Vorteil des britisch-schwedischen Mittels erwies sich, dass es bei Kühlschrank-Temperaturen gelagert werden kann. Biontech benötigt dagegen spezielle Kühlaggregate, weil es nur bei minus 70 Grad dauerhaft haltbar ist (mdr.de).


Re:Baltica recherchierte, dass die lettischen Gesundheitsbehörden die logistischen Probleme scheuten, die beim Einsatz von Biontech zu befürchten waren. Der Leiter der Staatlichen Arzneimittelagentur Svens Hankuzens mahnte, dass Lettland nicht die benötigten Kühlkapazitäten habe: “Wenn es uns nicht gelingt, Kühlaggregate im Umfang von hunderten zu beschaffen, dann nicht deshalb, weil uns die [finanziellen] Mittel fehlen, sondern deshalb, weil sie uns nicht angeboten werden.” Mitte November, als Biontech den EU-Ländern zusätzliche Lieferungen anbot, bestellte Nachbar Litauen das komplette Angebot von 1,24 Millionen Dosen und schaffte dafür nur zwei neue Kühlaggregate an. In litauischen Krankenhäusern waren bereits Möglichkeiten vorhanden, auf solche Temperaturen herunterzukühlen. Hier lässt der sorgfältig recherchierte Re:Baltica-Bericht eine Frage offen: Hat Lettland tatsächlich zu wenige Kühlaggregate? Jahrzehntelange Kürzungspolitik im Gesundheitsressort lässt spekulieren, ob Hankuzens` Sorge nicht doch berechtigt war. Wie hätten die Schlagzeilen gelautet, wenn Biontech-Dosen wegen zu warmer Lagerung als Müll entsorgt worden wären?  


Re:Baltica ermittelte allerdings, dass Hankuzens der Regierung Biontech als besonders problematischen Impfstoff präsentierte und dabei deutlich übertrieb. Der deutsch-amerikanische Impfstoff muss nämlich nicht, wie Hankuzens vorgab, ununterbrochen unter sibirischen Temperaturen aufbewahrt werden, er verträgt auch eine vorübergehende Lagerung im Kühlschrank.  


Als das Gesundheitsministerium von den untergeordneten Behörden Mitte November erfuhr, dass Lettland von Biontech kurzfristig 841.000 Dosen beziehen könne, beriet sich die damalige Gesundheitsministerin Ilze Vinkele mit den Beamten und Experten, die die Nachteile des Mittels besonders betonten. Schließlich wurden nur 97.500 Dosen bestellt, weil nun auch die Transportboxen ein Problem darstellten. Über diesen Sachverhalt wurde die Regierung nicht rechtzeitig informiert.


Re:Baltica zitiert den lettischen Ministerpräsidenten Krisjanis Karins. Bei der Kabinettsitzung vom 17. November 2020 sagte er: “Ich begreife, dass wir ein enormes Problem mit dem Widerstand haben werden. In unserem Land fehlt es nicht an Menschen, die gegen Impfungen sind. Dazu kommt, dass die Wirksamkeit einer Dosis bei 90 Prozent liegt, so dass noch mehr geimpft werden muss, um tatsächlich eine Immunität von 70 Prozent in der Bevölkerung zu erreichen.” Das bedeute ein außergewöhnlich massives Impfprogramm. Bislang habe man lediglich Erfahrungen mit Grippeimpfungen im maximalen Umfang von 200.000. Den müsse man nun verzehnfachen. “Uns kennzeichnet ein schreckliches logistisches Durcheinander, das überwunden werden muss.”

 

Karins fragte sich und den anwesenden Hankuzens, weshalb in anderen Ländern öffentlich verkündet werde, wie man sich vorbereite. Der Regierungschef erwog den Einsatz der Armee, um Massenimpfungen sicherzustellen, um 10 bis 15.000 Menschen am Tag zu impfen. “Entschuldigung, ich höre nur, dass wir schlafen.” Karins erkannte zudem, dass zu wenige Impfmittel bestellt worden waren und fragte Hankuzens, weshalb das nicht im hinreichenden Maß erfolgt und wer dafür verantwortlich sei. Der Premier fürchtete zudem, im internationalen Vergleich schlecht dazustehen: “Die allerschlimmste Nachricht wäre, wenn in Deutschland, Polen oder Dänemark die Dinge vorangingen, doch bei uns aus irgendwelchen Gründen nicht. Das ist meine schreckliche Sorge.” Der Ruf seiner Regierung hänge davon ab, Schuld trage kein Expertengremium, sondern das Kabinett.  

Karins entließ Anfang Januar Pavluts` Amtsvorgängerin Ilze Vinkele; er warf ihr vor, keinen hinreichenden Plan zur Massenimpfung ausgearbeitet zu haben. Sie hatte sich auf den Rat der Experten verlassen, die mit der rechtzeitigen Bereitstellung von Astrazeneca rechneten. Nach ihrer Entlassung berichtete die erfahrene Politikerin Re:Baltica von den Problemen des Gesundheitsministeriums, die vor ihrem Amtsantritt entstanden seien: Im Ministerium habe eine Atmosphäre des Mobbings geherrscht, die Beamten seien eingeschüchtert gewesen, das bekunde die Zahl der Beschwerden beim Ombudsmann für Menschenrechte, daher sei “die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, möglicherweise geringer als in anderen Ministerien”. Der Presse gegenüber hatte Vinkele aber lange behauptet, dass alle Bestellmöglichkeiten genutzt worden seien.


Staatspräsident Egils Levits kritisiert die lettischen Behörden und wirft ihnen mangelnde Qualität vor. Er lastet es der staatlichen Verwaltung an, dass Lettland nun eine der höchsten Infektionszahlen in Europa aufweise und das Ende der Beschränkungen nicht absehbar sei, der Lockdown möglicherweise noch verschärft werden müsse: “Man muss schauen, weshalb der öffentliche Dienst derart erfolglos arbeitet, man muss daraus Schlüsse für die staatlichen Verwaltungsstrukturen ziehen, für die Ausbildung der Angestellten, weshalb die staatlichen Behörden nicht die höhere Qualität haben, die sie haben müssten.” (lsm.lv)


Die Kritik Levits` klingt genauso wohlfeil wie die Schelte vieler Außenstehender über das Handeln der Entscheidungsträger in derart unübersichtlichen Zeiten, in denen auf der Basis ungesicherter Daten und falscher Lieferzusagen Beschlüsse gefasst werden mussten. Die Einwände der Beamten, nicht über die logistischen Möglichkeiten zu verfügen, waren ähnlich rational begründet wie das Vorhaben der Regierung, mit möglichst schneller Massenimpfung der Corona-Krise zu entkommen. Offenbar hat es an rechtzeitiger Abstimmung gefehlt. 

 

 

Folgt man Vinkeles Argumentation, verursachte nicht mangelnde Ausbildung die Impfmisere, sondern die Furcht davor, etwas falsch zu machen. Zudem fehlte es unter Umständen mehr an personeller Quantität, statt an Qualität. Staatliche Angestellte waren in den letzten Jahrzehnten oftmals wirtschaftsliberaler Kritik ausgesetzt, die auf Verschlankung des Staates zielte. Die Gesundheitsversorgung war seit der Finanzkrise oftmals Opfer von Sparrunden, die Stimmung nicht nur in den Praxen und Krankenhäusern entsprechend schlecht. 2009 entließ die damalige Regierung des heutigen Vize-Präsidenten der EU-Kommission, Valdis Dombrovskis, im Einvernehmen mit EU und IWF 43 Prozent der Angestellten im Gesundheitsministerium. Statt 143 hatte es fortan nur noch 89 Mitarbeiter. Damit wurden gerade mal eine halbe Million Lats pro Jahr eingespart, aber die damalige Ministerin Baiba Rozentale sah darin sogar einen strukturellen Vorteil. Auch wenn die Aufgaben und die Arbeitsintensität von Tag zu Tag anstiegen, zeigte sie sich davon überzeugt, dies fortan mit dem kleinsten Ministerium der Ministerkabinetts bewerkstelligen zu können. (vestnesis.lv) Im Jahr 2019 hatte das Ministerium 112 Angestellte, immer noch deutlich weniger als vor der Finanzkrise. (lrvk.gov.lv)


Trotz der prekären Situation im Gesundheitsressort hat nun die Suche nach den Schuldigen begonnen. Gegen zwei Staatssekretäre des Gesundheitsministeriums und gegen einen Beamten des Nationalen Gesundheitsdiensts, der für die Einkäufe verantwortlich war, wurden Disziplinarverfahren eingeleitet. Übrigens: Sputnik V benötigt nur gewöhnliche Kühlschranktemperaturen.

UB


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