Lettisches Centrum Münster e.V.

127746

Waffen für die Ukraine: Balten und Polen wollen jetzt auch Kampfflugzeuge liefern
03.02.2023


Der litauische Staatspräsident Gitanas Nauseda akzeptiert keine “roten Linien”

Die Außenminister Polens und der baltischen Länder in Riga: Gabrielius Landsbergis (LI), Zbigniew Rau (PL), Edgars Rinkevics (LV) und Urmas Reinsalu (EST) Foto: Lettisches Außenministerium auf flickr.com.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock verursachte vor einigen Tagen einen Skandal, als sie auf der internationalen Bühne des Europarats behauptete: “Wir sind schließlich im Krieg mit Russland” (mdr.de). Juristisch äußerte sie nicht unbedingt Falsches, denn wenn NATO-Länder, darunter USA, Deutschland und Lettland, ukrainische Soldaten an Waffen ausbilden, können sie selbst unter Umständen als Kriegspartei betrachtet werden. Das hatte der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags im letzten Jahr festgestellt (bundestag.de). In der lettischen Öffentlichkeit wurde das sogenannte “Zögern” von Olaf Scholz, Leopard-2-Panzer zu liefern, mit Argwohn verfolgt. Nach Lesart an der NATO-Ostflanke helfen gegen “Russlands Aggression” nur Waffen und keine diplomatischen Bemühungen. Mit der Lieferung von Kampfpanzern scheint für Polen und Balten noch längst nicht das Ende der Waffenhilfe gekommen. Nun fordern sie, der Regierung von Wolodymyr Selenskyj auch Kampfflugzeuge zu liefern.


Am 31. Januar 2023 trafen sich die Außenminister Polens und der baltischen Staaten in Riga, um ihre Unterstützung für die Ukraine abzustimmen. In einer Erklärung betonten sie die gemeinsamen Erfahrungen mit einem “revisionistisch-totalitären Regime” und dessen Repressionen (mfa.gov.lv). Wegen dieser Vergangenheit habe man ein ähnliches Verständnis von den “potenziellen Bedrohungen” und von der “Entschlossenheit, die eigene Sicherheit zu stärken und die eigene Unabhängigkeit und territoriale Integrität zu verteidigen.” In diesem Zusammenhang halten es die Außenpolitiker für “sehr wichtig”, die Ukraine weiterhin militärisch, finanziell und humanitär zu unterstützen. Balten und Polen sehen sich als die engsten Verbündeten der ukrainischen Regierung. Daher stimmen sie auch deren Forderung zu, dass jetzt Kampfflugzeuge geliefert werden müssten. US-amerikanische F-16-Flugzeuge sind im Gespräch. Die polnische Regierung ist bereit, diese Flugzeuge aus ihrem Arsenal zur Verfügung zu stellen. Doch sie wartet auf einen NATO-Beschluss. US-Präsident Joe Biden lehnt eine Lieferung bislang ab.  


Wie entschlossen baltische Politiker auf die militärische Karte setzen, die der Ukraine zum Sieg verhelfen soll, verdeutlicht ein Zitat des litauischen Staatspräsidenten Gitanas Nauseda, das LSM veröffentlichte: “Ich spreche nicht nur über die Lieferung von Panzern. Einst war auch der Status eines EU-Kandidaten für die Ukraine tabu, eine `rote Linie`. Auch dann, als der Krieg begann, sagte Deutschland zunächst kategorisch, dass es nur Westen, Helme und ähnliches schicken werde, aber keine Waffen. Dennoch wurde auch diese `rote Linie` schon bald überschritten.” Nauseda akzeptiert in Bezug auf Waffenlieferungen keine Grenzen: “Der Rubikon ist überschritten, deshalb hoffe ich, dass auch diese `rote Linie`- wenn es sie tatsächlich gibt - und ich denke, dass sie nur in unseren Köpfen existiert, überschritten wird. Denn Kampfflugzeuge und Langstreckenraketen sind eine grundlegende militärische Hilfe und in dieser Phase des Krieges entscheidend, wenn der Wendepunkt erwartet wird, ist es notwendig, dass wir unverzüglich handeln.” (lsm.lv)


Um die eigene Entschlossenheit zu demonstrieren, schreckte der polnische Außenminister Zbigniew Rau anlässlich des Treffens in Riga nicht vor Geschichtsklitterung zurück. Er wiederholte die im Westen verbreitete Ansicht, dass Russland 2008 den Krieg gegen Georgien begonnen habe, eine Behauptung, die längst widerlegt wurde (faz.net). Man kann Russland allenfalls vorwerfen, den damaligen Fünf-Tage-Krieg provoziert zu haben. Vor der Presse erinnerte Rau daran, dass sich damals die Vertreter Polens, der Ukraine und der baltischen Länder in Tiflis eingefunden hatten, um ihre Solidarität zu bekunden. Er zitierte die Worte von Lech Kaczinsky, zu jener Zeit Staatspräsident seines Landes: “Er sagte: heute Georgien, morgen die Ukraine, übermorgen die baltischen Staaten und später möglicherweise auch mein Land Polen. Wenn wir auf die Roadmap des russischen Imperialismus schauen, dann müssen wir begreifen, dass wir uns auf der Mitte dieses Weges befinden.” Der lettische Außenminister Edgars Rinkevics ergänzte: “Wir sind der Auffassung, dass für die Ukraine jetzt alles getan werden muss, was notwendig ist, damit sie sich nicht nur selber verteidigen kann, sondern auch Gebiete befreien kann. Und am Ende auch gewinnen.” (lsm.lv)


In den baltischen Ländern und Polen ist das Narrativ, dass sich Russland nur mit militärischen Mitteln stoppen lässt, eine beinahe alternativlose Auffassung; die mediale Berichterstattung ist darauf ausgerichtet, diese Sichtweise zu bekräftigen. Sie lässt sich wie folgt skizzieren: Das russische Regime des Diktators Putin hat imperialistische Ziele. Es hat die Absicht, die Sowjetunion territorial wiederherzustellen. Mit Putin zu verhandeln ist zwecklos. Gegen die russische Aggression hilft nur militärische Stärke und Abschreckung. Die Lage ist vergleichbar mit dem Jahr 1939, als Nazi-Deutschland Polen und später fast ganz Europa überfiel und es erst dem geballten militärischen Widerstand der Alliierten gelang, die Deutschen zu besiegen. Auch die Ukraine wurde von einem Aggressor überfallen, bei dem diplomatische Bemühungen aussichtslos sind. Wer sie dennoch anstrebt, betreibt Appeasement-Politik. Deshalb müssen so lange Waffen jeglicher Art geliefert werden, bis die russische Armee aus sämtlichem ukrainischen Territorium, inklusive der Krim, zurückgeschlagen sein wird. Mit Russland wird es erst Frieden geben, wenn das Kreml-Regime gestürzt wird. Solange es nicht besiegt ist, gefährdet es ganz Europa.


Die entgegengesetzte Lesart des jetzigen Kriegsgeschehens, die in westlichen Medien kaum vorkommt, aber in nicht unbeträchtlichen Teilen der westeuropäischen Bevölkerung Zustimmung findet (soweit man den Umfragen zu Waffenlieferungen vertrauen kann), weist der westlichen Seite eine Mitverantwortung zu: Die NATO-Osterweiterung, gegen die sich sowohl Jelzin als auch Putin aussprachen, hat russische Sicherheitsinteressen ignoriert. Nun kann die NATO Atomraketen in Rumänien und Polen stationieren, die Moskau in wenigen Minuten treffen könnten. Eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine wäre für Russland eine ähnliche Provokation wie für die USA die Stationierung sowjetischer Atomraketen in Kuba, die 1962 beinahe den Dritten Weltkrieg entfachten. Eine Atommacht ist nicht besiegbar, ohne das Risiko nuklearer Vernichtung einzugehen. Die Gefahr des Atomkriegs wird von den Befürwortern einer militärischen Lösung verharmlost. Waffenlieferungen verlängern nur das Leiden von Soldaten und Zivilbevölkerung. Die Eskalation mit immer schwereren Waffen bewirkt lediglich, dass sich der Krieg ausweitet und ganz Europa in den Konflikt verwickelt wird. Auch die ukrainische Regierung ist mitverantwortlich, da sie nationalistisch die Rechte der russischen Minderheit in ihrem Land ignoriert, das Minsk-II-Abkommen missachtet und seit 2014 militärisch die russischsprachigen Aufständischen im Donbass bekämpft. Damit lieferte sie Russland einen Vorwand für militärisches Eingreifen. Westliche Politiker, die die Gefahr einer Eskalation verharmlosen, erweisen sich als ähnliche Schlafwandler wie die Machthaber im Jahr 1914. Nur eine diplomatische Lösung kann den Krieg stoppen; dafür ist Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten notwendig.


Bislang konnten sich die baltischen und polnischen Befürworter von Waffenlieferungen auf US-amerikanischen Rückhalt verlassen; zuletzt sorgte der Druck aus der Biden-Regierung dafür, dass Scholz der Lieferung von Leopard-2-Panzern zustimmte. Doch derzeit spricht sich US-Präsident Joe Biden dagegen aus, der Ukraine F-16-Kampfjets zur Verfügung zu stellen. US-Militärs äußern sich zurückhaltend, was die Siegeschancen der Ukraine anbelangt. Mark Milley, oberster General der US-Streitkräfte, beobachtet einen Stellungskrieg zwischen den Fronten. Er warnte anlässlich des letzten Treffens der Ukraine-Kontaktgruppe in Ramstein, dass der Krieg in diesem Jahr nicht enden werde. Es sei kaum realistisch, dass die Ukraine ihn gewinne. Nur Verhandlungen könnten den Konflikt beenden (skynews.com).


Sogar der US-Think-Tank “RAND Corporation”, der gewiss nicht im Verdacht steht, russische Interessen zu vertreten, veröffentlichte ein 32 Seiten langes Papier, das die Möglichkeiten erörterte, den Krieg möglichst schnell zu beenden (rand.org). Die Autoren kommen zu dem Schluss: “Unsere Analyse verdeutlicht, dass die Debatte sich zu eng auf einen Aspekt des Kriegsverlaufs konzentriert. Die territoriale Kontrolle, für die Ukraine immens wichtig, ist für die USA nicht der wichtigste Aspekt im weiteren Verlauf dieses Krieges. Wir folgern, dass für die USA zusätzlich zur Vermeidung einer möglichen Eskalation zu einem NATO-Russland-Krieg oder der russischen Nutzung von Atomwaffen auch die Verhinderung eines langen Krieges eine höhere Priorität hat als der Ukraine deutlich mehr territoriale Kontrolle zu ermöglichen. Außerdem sind die Möglichkeiten der USA, vor Ort zu bestimmen, wo die Grenzlinie gezogen wird, äußerst eingeschränkt, da US-Militär nicht unmittelbar im Kampf beteiligt ist. Der Ukraine territoriale Kontrolle zu ermöglichen ist bei weitem nicht das einzige Mittel, das den USA zur Verfügung steht, um den Kriegsverlauf zu beeinflussen.”


Udo Bongartz 




      zurück