Lettisches Centrum Münster e.V.

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Letten beim bedingungslosen Grundeinkommen auf der Überholspur
08.01.2021


Covid-19-Krise demonstriert die unzulängliche soziale Absicherung

Demonstration für ein BGE in Berlin 2010, Foto: Gemeinfrei, Link

In der letzten Woche vervielfachte sich die Zahl jener Letten, die im Internet die Einführung bedingungsloser Grundeinkommen (BGE) in der ganzen EU befürworten. Obwohl lettische Medien darüber kaum berichteten, verbreiteten sich die Informationen über diese Europäische Bürgerinitiative in den sozialen Netzwerken. Ein BGE wäre eine Antwort auf die von der Pandemie ausgelösten Wirtschaftskrise, die viele Existenzen zu ruinieren droht und mit bedingten staatlichen Unterstützungszahlungen nur unzureichend zu bewältigen ist. 

 

Evita Simsone, Leiterin der staatlichen Arbeitsagentur (NVA), beschrieb im lettischen Fernsehen LTV am 8. Januar 2021 die Situation auf dem Arbeitsmarkt (lsm.lv). Im letzten Jahr mussten ihre Mitarbeiter 79 Anträge auf Massenentlassungen bearbeiten. Mehr als 8.000 Beschäftigte waren betroffen. Das sei ein Vervierfachung im Vergleich zu den Vorjahren gewesen. Als das Virus im Frühjahr Lettland erreichte, sei die Erwerbslosigkeit zunächst rasch angestiegen, habe sich aber seit Juni wieder verringert. Seit Beginn der zweiten Welle im November steige sie wieder leicht an. Die Erwerbslosenquote beträgt derzeit 7,7 Prozent; 70.000 Menschen beziehen Geld von der NVA und hoffen auf eine neue Erwerbstätigkeit. Simsone ist wenig optimistisch und schätzt, dass die Erwerbslosenquote in diesem Jahr auf 10 Prozent ansteigen könnte.


Auch die lettische Regierung reagiert mit Kontaktsperren, Beschränkungen und Schließungen. Neben Selbstständigen, Angestellten in Schulen und kulturellen Einrichtungen sind vor allem Unternehmer und Beschäftigte der Logistikbranche, des Einzelhandels sowie des Gaststätten- und Hotelgewerbes betroffen. Die Regierung hilft mit Kurzarbeitergeld und Kompensationszahlungen. Doch nicht jeder, der Unterstützung benötigt, erfüllt alle Antragskriterien. Das berichtete zum Beispiel die Leiterin eines Hotels in Bauska. Im Frühjahr erhielt sie vom Staat für ihre Angestellten kein Kurzarbeitergeld, auch Anfang Dezember blieb ungewiss, ob sie nun die Bedingungen erfüllt. Es bestehe keine Klarheit darüber, was mit den Sozialabgaben geschehe, mit Zahlungen im Krankheitsfall; ihre Fragen an das Finanzamt seien unbeantwortet geblieben.


Ein Cafe-Besitzer dieser Kleinstadt an der litauischen Grenze beschäftigt Menschen mit Behinderungen im Rahmen einer staatlichen Beschäftigungsmaßnahme, die im September begann. Nun kann er für die betroffenen Angestellten kein Kurzarbeitergeld beantragen, weil sie vor dem Lockdown noch nicht drei Monate lang beschäftigt waren.


Im benachbarten Schloss Rundale betreibt Anita Ozolina die Cafeteria “Ozollade”. Da im letzten Jahr wegen der Lockdowns die Gäste fehlten, änderte sie komplett das Angebot. Auf Facebook richtete sie eine Seite ein, um zu Weihnachten besondere Speisen anzubieten. Die Nachfrage erwies sich als derart hoch, dass sie ihre Verluste in Grenzen halten konnte. Weil das Minus nun weniger als 20 Prozent beträgt, hat sie keinen Anspruch auf staatliche Zahlungen, wie Uldis Varnevics für die Regionalzeitung Bauskas Dzive berichtete (bauskasdzive.lv).


Agris Lazdins, ein Busunternehmer aus Rundale, verdeutlicht in Varnevivs` Beitrag die Ungewissheit, die der Lockdown verursacht. Insgesamt scheinen ihm die Kompensationssummen, von denen er im Internet liest, recht groß, doch was seine Firma davon abbekomme, könne er nicht einschätzen: “Ich weiß, dass wir schon zwei Monate lang nicht für Verluste entschädigt wurden, auch im Dezember gibt es kein Geld. Es schaut so aus, dass die Zeiten zurückkehren werden, dass die Regierung am Jahresende kein Geld hat. Leider ist dem eigenen Staat nicht zu vertrauen,” meinte Lazdins.


Die Liste ließe sich noch exponentiell vervielfachen mit Betroffenen, die vergeblich auf staatliche Hilfen warten, weil sie bestimmte Kriterien nicht erfüllen oder die Behörden mit der Bearbeitung nicht nachkommen oder einfach nur amtliche Willkür herrscht. Ein BGE wäre die gerechtere Lösung für alle, die in einem solchen Krisenfall ihre Lebenshaltungskosten weiter begleichen müssen. Die Furcht vor völligem Verlust der eigenen materiellen Basis, vielleicht sogar vor Obdachlosigkeit, wäre gebannt und ließe freier agieren und neue Wege ausprobieren.


Aus diesem Grund organisiert die Europäische Bürgerinitiative für BGE in der gesamten EU, ein Bündnis aus Aktionsgruppen in den einzelnen Mitgliedsländern, im Internet eine Onlinesammlung für Unterstützungsbekundungen. Ziel ist es, bis zum 25. Dezember 2021 eine Million Stimmen zu sammeln und in mindestens sieben Ländern eine festgelegte Mindestzahl zu erreichen. Gelingt dies, müsste die EU-Kommission ein Konzept ausarbeiten, wie in den einzelnen Ländern dauerhaft ein BGE einzuführen wäre.  


Auf der eci.ec.europa.eu lässt sich der aktuelle Stand ablesen. Die Stimmensammlung begann im September des vergangenen Jahres. Wochenlang schien es so, als hätten die Letten kein Interesse an dieser Initiative. Mit ein paar Dutzend Stimmen befand sich die Beteiligung Ende Dezember noch im Promillebereich, weit von der lettischen Mindestzahl von 5.640 Voten entfernt. Doch nachdem am 29. Dezember 2020 auf dem Nachrichtenportal Apollo.lv ein Artikel zum Thema erschienen war, klickten in kurzer Zeit über 2.000 Letten für ein BGE, so dass Lettland nun prozentual den 3. Platz hinter Slowenien und knapp hinter Griechenland einnimmt.  


Vielleicht trug eine gewisse Länderkonkurrenz zu den steigenden Zahlen bei. Apollo berichtete vor zehn Tagen, dass im Nachbarland Estland das Interesse an einem BGE rasch ansteige; das Land hatte damals schon 1.264 Stimmen verzeichnet, Lettland nur 125. Zu Beginn hätten auch die Esten nur zögerlich teilgenommen, doch dann kursierten Berichte über die schwache Beteiligung, auch darüber, dass wegen der Pandemiehürden die Abstimmung bis Jahresende verlängert worden ist. Offenbar machte dieser Artikel auf Facebook&Co. die Runde. Inzwischen haben die Letten ihre Nachbarn überholt; fehlt noch der dritte Balte im Bunde: Die Litauer dümpeln noch mit 143 Stimmen vor sich hin (Stand 8.1.21).



Anteil in %

an Mindestzahl

Mindestzahl

Slowenien

109,2

5640

Griechenland

45,49

14805

Lettland

45,34

5640

Estland

37,49

1850

Deutschland

35,55

67680

Spanien

32,46

41595

Ungarn

31,84

14805

Quelle: eci.ec.europa.eu


Das BGE ist ein Zankapfel zwischen Gegnern und Befürwortern. Kritiker befürchten, dass es nicht finanziert werden könnte und Menschen davon abhält, unattraktive, aber notwendige Tätigkeiten zu verrichten. Befürworter schätzen die emanzipierende Wirkung: Lohnabhängig Beschäftigte kämen in eine bessere Verhandlungsposition gegenüber Unternehmern und müssten keine Arbeitsbedingungen zu jedem beliebigen Preis akzeptieren. Die disziplinierende Furcht vor Erwerbslosigkeit wäre kein Machtinstrument mehr. Ob und auf welche Weise BGE in EU-Ländern eingeführt werden, wäre auch nach erfolgreicher Abstimmung noch Gegenstand vieler öffentlicher Debatten. Bislang ignorieren die Leitmedien das Thema BGE, das das Leben der Bürger entscheidend verändern könnte.  


UB

 


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