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Lettische Gewerkschaften unterstützen EU-Richtlinie für bessere Mindestlöhne
02.05.2021


Faire Löhne contra nationaler Wettbewerb

Wer arm ist, wird arm bleiben, Ver.di-SeniorInnen demonstrieren gegen Armutslöhne, Foto: Wolf1949 CC BY-SA 4.0, Link

 

“Es ist niemals leicht, sich den Mächtigen entgegenzustellen, doch die Präsidentin der EU-Kommission muss genau das tun, um ihr Versprechen zu halten, für faire Mindestlöhne in der gesamten EU zu sorgen,” schreibt Esther Lynch, stellvertretende Generalsekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB)(socialeurope.eu). Bislang hätten sich EU-Gremien selten um faire Löhne gekümmert, bemängeln linke EU-Kritiker. Die Brüsseler Politik der Deregulierung habe stattdessen “einen eindeutig negativen Beitrag zur Lohnentwicklung” geleistet und durch derart geförderte Konkurrenz auf dem Binnenmarkt den “Druck auf die Löhne massiv erhöht”, kommentieren EU-Abgeordnete der “Linken” (euractiv.com). Die Nachwirkungen der Finanzkrise und auch die derzeitige Pandemie verstärken den Trend zu sozialer Ungleichheit. Die deutschsprachige Wendung, dass Arbeit durch Lohn “honoriert” werde, muss am immer unbedeutenderen “Tag der Arbeit” für Millionen EU-Bürgerinnen und Bürger wie Hohn in den Ohren klingen, deren Mindestlöhne nicht einmal 60 Prozent des nationalen Medianlohns erreichen, die also mit Armutslöhnen leben müssen. Nicolas Schmit, der Luxemburger EU-Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Integration, will diese Entwicklung stoppen. Er machte im letzten Jahr den Vorschlag für eine EU-Richtlinie, die armutsfeste Mindestlöhne gewährleisten soll. Der EGB und auch der lettische Gewerkschaftsdachverband LBAS stimmen Schmits Initiative im Prinzip zu. Doch strittig ist das Kleingedruckte, insbesondere die Frage, wie verbindlich diese EU-Richtlinie sein soll und sein darf.


Der LBAS schließt sich dem Appell des EGB an die EU-Parlamentarier an, der Richtlinie zuzustimmen, an der sich nationale Gesetzgeber orientieren müssten. LBAS-Vorsitzender Egils Baldzens begründet diese Forderung und nennt fälschlich Deutschland als Vorbild: “Es ist sehr wichtig, dass in der EU definitiv gemeinsame Prinzipien zur Bestimmung von Mindestlöhnen festgelegt werden. Historisch ist der Anteil der Tarifverträge in den osteuropäischen Staaten geringer als beispielsweise in Deutschland oder in den skandinavischen Ländern, wo der Mindestlohn mit Hilfe von Tarifverträgen reguliert wird. Auch der LBAS arbeitet daran, mit Hilfe gemeinsamer und allgemeiner Vereinbarungen zu höhreren Mindestlöhnen als die staatlich festgesetzten zu gelangen, wie das bereits in der Bauwirtschaft erfolgt ist. Wir unterstützen die gemeinsame Position der europäischen Gewerkschaften, die unserer Ansicht nach die entwickelten Länder nicht stört, doch die Ungleichheit in jenen EU-Ländern verringern wird, wo die Deckung durch Tarifverträge weniger als 70 Prozent beträgt.” (arodbiedribas.lv) Nach dieser Definition gehört allerdings auch Deutschland nicht zu den entwickelten Ländern, weil es eine tarifvertragliche Absicherung der Beschäftigten von 70 Prozent schon lange nicht mehr erreicht und auch der Mindestlohn nicht durch Tarifverhandlungen bestimmt wird. In Deutschland existiert eine Mindestlohnkommission aus Unternehmer- und Gewerkschaftsvertretern, die alle zwei Jahre der Bundesregierung empfiehlt, wie hoch der Mindestlohn sein soll. Bislang orientierte sich die Kommission an den allgemeinen Lohnsteigerungen, die in den letzten Jahren mäßig ausfielen. Der deutsche Brutto-Mindestlohn pro Stunde beträgt derzeit 9,35 Euro. Das sind nur 45,6 Prozent vom nationalen Medianlohn.


Die Richtlinie soll Gewerkschaften stärken. Ihre Vertreterinnen und Vertreter sollen das Recht haben, Beschäftigte am Arbeitsplatz aufzusuchen. Das sogenannte “Union Busting”, also die Tricks der Unternehmen, gewerkschaftliche Arbeit in ihren Werkshallen und Büros zu sabotieren, soll verboten werden. Zudem fordern Gewerkschafter, dass Regierungen und Verwaltungen bei öffentlichen Aufträgen nur jene Firmen berücksichtigen, die Arbeitnehmerrechte und gewerkschaftliche Organisationen respektieren. Der entscheidende Punkt der Richtlinie dürfte die Bestimmung der Schwelle sein, unter der kein Mindestlohn vereinbart werden darf. Soll er armutsfest sein, also mindestens 60 Prozent des nationalen Medianlohns betragen, müssten die meisten Länder, auch Deutschland und Lettland, ihre Mindestlöhne deutlich erhöhen.  


Allerdings stellen die Gewerkschafter auch fest, dass die Richtlinie den Trend zu immer ungleicheren Einkommensverhältnissen lediglich verzögere, aber nicht aufhalte oder gar umkehre, weil nur zwei von fünf Beschäftigten in der EU ein tarifvertraglich bestimmtes Einkommen erzielten. In der Regel sind tarifvertraglich festgelegte Löhne und Gehälter deutlich höher. Die übrigen Lohnabhängigen sind den Lohnfestsetzungen der Unternehmen weitgehend ausgeliefert. Zudem beziffern die Arbeiterorganisationen, dass in Zweidrittel aller EU-Länder Lohnabhängige heutzutage weniger Anteil am BIP erhalten als vor zehn Jahren. Und in mehr als die Hälfte aller Mitglieder des Staatenbundes blieb der Lohnzuwachs im letzten Jahrzehnt geringer als die Steigerung der Arbeitsproduktivität, was Umverteilung zur Kapitalseite bedeutet.  


Thorsten Schultens und Torsten Müllers Untersuchung der Mindestlohnregime in der EU, die sie im Auftrag der linken EU-Fraktion GUE/NGL anfertigten, beschreibt u.a. die lettische Situation. Deutschland hat den größten Niedriglohnsektor der EU in absoluten Zahlen (zdf.de), Lettland den größten in relativen Zahlen: 26 Prozent aller Beschäftigten arbeiten an der Rigaer Bucht als Geringverdiener. Nach Rumänien wies Lettland 2018 mit 23,3 Prozent die zweithöchste “Armutsgefährdungsquote” unter den EU-Mitgliedstaaten auf (ec.europa.eu). Die Höhe des lettischen Mindestlohns konzipiert eine Arbeitsgruppe verschiedener Ministerien. Ihre Empfehlung wird dem Rat für tripartistische Zusammenarbeit vorgelegt, der aus Vertretern der Gewerkschaften, Unternehmen und der Regierung besteht. Letztlich entscheidet auch in Lettland die Regierung. Derzeit beträgt der Brutto-Mindestlohn pro Stunde 2,54 Euro. Das sind 50,4 Prozent des lettischen Medianlohns und 40,4 Prozent des Durchschnittslohns. Schulten und Müller beschreiben die lettische Lohnentwicklung als Wechsel zwischen stagnierenden Phasen und Zeiten starker Erhöhungen, die immerhin bewirkten, dass der Mindestlohn, der im Jahr 2000 nur 35,5 Prozent des Medianlohns deckte, sich um über 15 Prozent gesteigert hat. Dennoch bedeuten 2,54 Euro nach wie vor den zweitniedrigsten Mindestlohn nach Bulgarien.*  

*(Korrektur: Am 1. Januar 2021 wurde der lettische Brutto-Mindestlohn pro Stunde auf 2,96 Euro erhöht (statista.com). Damit hat Lettland Rumänien und Ungarn überholt und liegt "nur" noch an viertletzter Position)

Dass Lettland den größten Niedriglohnsektor und Mindestlöhne aufweist, die nicht vor Armut schützen, ist nicht zuletzt eine Folge der Finanzkrise, die in der mittleren Baltenrepublik ähnlich heftig ausfiel wie in Griechenland. Dazu stellen Schulten und Müller fest: “Auffällig ist insbesondere, dass das in der Regierungsverordnung 2003 formulierte Ziel, den Mindestlohn bis 2010 auf 50 Prozent des Durchschnittlohns anzuheben um mehr als 10 Prozentpunkte verfehlt wurde. Ein wesentlicher Erklärungsfaktor ist die Tatsache, dass in diese Phase auch der Beginn der Finanzkrise fällt, von der Lettland stark betroffen war und auf finanzielle Hilfe durch den Internationalen Währungsfond und die Europäische Kommission angewiesen war. Die finanzielle Hilfe war jedoch an die Durchführung einer strikten Austeritätspolitik gebunden mit weitreichenden Auswirkungen auf die Mindestlohnpolitik.” (oezlem-alev-demirel.de)


Zuweilen wird bezweifelt, ob relative Armut tatsächlich Armut bedeutet. In Deutschland haben Geringverdiener in der Regel ein Dach über dem Kopf, können auf Kosten der Krankenkasse zum Arzt gehen und das Geld reicht, um sich bei Discountern zu versorgen. Doch relative Armut isoliert und spaltet gerade in wohlhabenden Gesellschaften, wo die Einkommenshöhe das wichtigste Maß für gesellschaftliche Anerkennung bedeutet und wo sich Familienverbände, Freundes- und Bekanntenkreise als Gemeinschaften mit gemeinsamen Konsumstandards definieren lassen. Da werden Geringverdiener negativ auffällig, die sich das Treffen in der Kneipe oder im Restaurant, den Theater- oder Kinobesuch oder den im Freundeskreis verabredeten Wochenendausflug mit Hotelübernachtung nicht leisten können. Relative Armut bedeutet, kaum noch am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können und sich zurückzuziehen.  


Nicolas Schmits Anliegen, in der EU für armutsfeste Löhne zu sorgen, ist glaubhaft. In einer Videokonferenz mit österreichischen Gewerkschafterinnen deutete er an, dass die Richtlinie ein Versuch ist, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zurückzugewinnen, das die von Brüssel verordnete Deregulierungs- und Austeritätspolitik der letzten Jahrzehnte verloren hat: “Hier ist natürlich auch die Frage, wie wir die Bürger an Europa heranbringen und das ist für Sozialdemokraten wesentlich, aber auch für die europäische Integration - ich würde fast sagen: lebenswichtig. Wenn die Menschen das Gefühl haben, dass Europa sich wenig um sie kümmert, dass die Menschen ins Abseits gedrängt werden, dass Social Dumping zum Alltag gehört, dann haben die Menschen das Gefühl, dass sie sehr schnell zum Verlierer der europäischen Integration werden - zwischen europäischer Integration und Globalisierung wird ja nicht immer so klar unterschieden [...], dann laufen wir Gefahr, dass die Menschen sich von Europa abwenden und überall sich Populisten zuwenden.” (Transkription des mündlichen Beitrags von UB, youtube.com)


Doch ob Schmits hehres Vorhaben Gesetzeskraft erlangt, ist noch völlig ungewiss. Die Hinwendung der EU von einem wirtschaftsliberalen zu einem sozialen Kurs wird durch Paragraphen der EU-Verträge behindert, die der EU untersagen, Löhne in den Mitgliedstaaten festzulegen. Die entscheidende Frage ist, ob die EU bestimmen darf, dass nationale Mindestlöhne mindestens 60 Prozent des Medianlohns betragen müssen oder ob dies nur eine unverbindliche Empfehlung wird. Bereits im vorliegenden Entwurf der EU-Kommission vom 28. Oktober 2020 ist die entscheidende Zahl, 60 Prozent, lediglich als unverbindliche “Richtschnur” für angemessene Entlohnung formuliert (eur-lex.europa.eu). Auf der Kapitalseite schicken sich Lobbygruppen an, Schmits Vorhaben zu durchkreuzen. Die LP erwähnte bereits die ablehnende Stellungnahme des Zentralverbandes des deutschen Baugewerbes zum vorliegenden Richtlinienentwurf (lcm.lv). Von Unternehmerseite besteht kein Interesse an armutsfesten Mindestlöhnen, die für Firmen höhere Lohnkosten bedeuteten. Aber auch die neutrale Bundesrechtsanwaltskammer lehnt die EU-Initiative ab, weil sie die Kompetenzgrenze der EU überschreite (brak.de). In einer Empfehlung des Deutschen Bundesrates zur Richtlinie vom 7. Dezember 2020 wird die Quadratur des Kreises formuliert: Zwar unterstütze das gesetzgebende Gremium der deutschen Bundesländer angeblich das Ziel angemessener Mindestlöhne in den EU-Mitgliedstaaten. “Dies gilt insbesondere für die vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in systemrelevanten Berufen, die während der Corona-Krise an vorderster Front tätig waren”, doch das nationale Recht, Niedriglöhne zu zahlen, will sich der Bundesrat nicht nehmen lassen, denn der europaweite Schutz vor Armut sei mit der Zielsetzung des deutschen Mindestlohns nicht vereinbar: “Durch eine EU-Richtlinie verbliebe “den Mitgliedstaaten letztlich kaum Spielraum bei der Festlegung der Höhe des Mindestlohns. Mit diesem Kriterienkatalog würde der gesetzliche Mindestlohn de facto zu einem politischen Instrument zum Schutz vor Armut, das nicht mit der Zielsetzung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland zu vereinbaren wäre (absolute Lohnuntergrenze, um angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen). In Deutschland würde damit im Übrigen die Kompetenz der Mindestlohnkommission zur Anpassung des Mindestlohns ausgehebelt.” (bundesrat.de)


Die paradoxen Formulierungen des Deutschen Bundesrats verdeutlichen, wie sehr die Ideologie der Wettbewerbsfähigkeit nach wie vor das Denken politischer Entscheidungsträger bestimmt, welche sich nicht scheuen, in wirtschaftlicher Konkurrenz zu anderen Nationalstaaten Teile der eigenen Bevölkerung zu prekarisieren und sich dieses Recht durch einen sozialeren Kurs der EU auch nicht nehmen lassen wollen.  

UB 




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