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Lettische Umweltschützer beklagen Widersprüche in der Regierungserklärung
17.12.2022


Zuviel Rücksicht auf Lobbyisten

Geparkte Flugzeuge in Frankfurt, während der Pandemiekrise wurden sie nicht gebraucht, Foto: Leonhard Lenz, Eigenes Werk CC0, Link

Die neue lettische Regierung hat ihre Vorhaben am 14. Dezember 2022 in einer 49seitigen Erklärung vorgestellt, die 328 Paragraphen umfasst. Krisjanis Karins sprach von einer Transformation, die sein Kabinett bewerkstelligen müsse. Die Opposition bezweifelt jedoch, ob sie gelingen wird. In lockerer Reihenfolge werde ich die Regierungsvorhaben zu bestimmten Themen vorstellen. Beginnen werde ich mit dem Umwelt- und Klimaschutz. Der Regierungstext beinhaltet ein eigenes Kapitel dazu. Karins` Kabinett bekennt sich zum Prinzip der Klimaneutralität. Doch Umweltschützer bezweifeln die Ernsthaftigkeit dieses Vorhabens und werfen dem Kabinett vor, zu viel Rücksicht auf Lobbyisten zu nehmen.


Die Punkte 107 bis 117 sind dem Umweltschutz gewidmet. Die Regierung will sich am Green Deal der EU orientieren. Die Politiker des Staatenbundes haben sich auf "Klimaneutralität" bis 2050 geeinigt, was bedeutet, dass bis zur Jahrhundertmitte Industrie und Verbraucher keine Stoffe mehr freisetzen sollen, die die Erderwärmung beschleunigen. Karins` Kabinett will Wissenschaftler und Unternehmer unterstützen, die in diesem Sinne forschen und produzieren lassen. Zudem will es Kommunen helfen, die Folgen des Klimawandels abzumildern, beispielsweise beim Hochwasserschutz. Die Liste reiht ein Allerlei weiterer Soll-Vorhaben aneinander: In der Bildung soll das Umweltbewusstsein gefördert werden. Abfälle sollen vermieden oder wiederverwertet werden. Der lettische Lebensstil soll abfallfrei werden und sich an der Kreislaufwirtschaft orientieren. Das neue Klima- und Energieministerium soll eine unabhängige, auf erneuerbare Energien gestützte Versorgung sicherstellen; Biogasproduktion soll gefördert werden. Die lettischen Umweltbehörden sollen bei der Umsetzung der EU-Strategie zur Sicherung der Artenvielfalt unterstützt werden. Den Waldbesitzern, die durch Umweltschutz Verluste erleiden (beispielsweise durch Abholzungsverbote) sollen Ausgleichszahlungen erhalten.


Die lettische Umweltschutzorganisation "Lettischer Naturfonds" (LDF) veröffentlichte dazu eine Stellungnahme (ldf.lv). Sie sieht Licht und Schatten in dieser Erklärung, lobt die Orientierung an den Zielen der EU, kritisiert aber, dass es sich um ein Gemisch von Paragraphen handelt, die einerseits zu konkret, andererseits zu allgemein für eine Ankündigung von Umweltschutzzielen formuliert sind. Vor allem aber bemängeln die Umweltschützer, dass die zukünftige Regierung der Ansicht ist, Umweltschutz und Kreislaufwirtschaft ließen sich mit herkömmlichen Vorstellungen über eine wachstumsbasierte Wirtschaft vereinbaren und "harmonisieren" und dass die Entwicklung der Volkswirtschaft und lettische Wettbewerbsfähigkeit nicht gestört werden dürften. "Dieses Narrativ bekundet erneut, was Umweltschutzorganisationen oftmals betont und beobachtet haben: Den Politikern fehlt der Wille und/oder das Verständnis dafür, dass es möglich ist, die Volkswirtschaft nachhaltig auszurichten und dass es im Interesse der gesamten Gesellschaft ist, eine solche zu unterstützen und zu entwickeln." Die Gegensätze zwischen wirtschaftlichen Zielen und den Zielen des Green Deals seien übertrieben und unbegründet. Allerdings ist der Widerspruch, einerseits eine nachhaltige Wirtschaft entwickeln zu wollen, andererseits deren Erfolg weiterhin am Wachstum zu messen, auch in den EU-Texten zum Green Deal zu finden. Das haben die lettischen Umweltschützer bereits selbst festgestellt (LP: hier).


Wie die meisten Regierungen scheint auch die lettische dem Prinzip zu folgen: "Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass", so dass ernsthafte Veränderungen ausbleiben. Als besonders widersprüchlich betrachtet der LDF die Berücksichtigung der Industrielobby und ihrer "roten Linien", die diese beim Umweltschutz zieht. In einem Paragraphen seien Umweltschutzziele formuliert, in einem anderen dagegen solche, die ihn faktisch aufheben oder neutralisieren. Deshalb erhalte man "keine wirkliche Klarheit und Gewissheit über die Haltung der Regierung".  


LDF zitiert Janis Rozitis, den Leiter der lettischen WWF-Filiale. Er bemängelt, dass Karins` Kabinett, welches die "Transformation" des Landes einleiten will, weder die Umwelt noch das Klima zu den fünf Bereichen zählt, die es als vorrangig hervorhebt. Zudem erscheine an vielen Stellen der Erklärung der Umweltschutz bedeutungslos, wenn er im Gegensatz zu wirtschaftlichen und sozialen Interessen stehe. Obwohl die Regierung das Umweltbewusstsein durch Bildung fördern wolle, befinde sich nichts davon im Bildungskapitel. Rozitis weist auf ein Problem, dass allenthalben in der heutigen Politik verbreitet ist: "Auch in Bezug auf den Umweltschutz verstehen die Macher der Regierung nicht, dass sich die Qualität eines Umweltschutzsystems nicht wirtschaftlichen Interessen fügen darf, sondern im Gegenteil die wirtschaftlichen Bedürfnisse derart verwirklicht werden müssen, dass sie sich den Zielen und dem System des Umweltschutzes unterordnen."


Viesturs Kerus, Leiter des Lettischen Vereins der Ornithologen, sieht es ähnlich. Er bemerkt im Regierungstext den Widerstreit zwischen progressiv Denkenden und jenen, die die Ausbeutung natürlicher Ressourcen im Sinne der Unternehmerlobby befürworten und letztere behielten meistens die Oberhand. Als Priorität betrachte die Regierung "Lettlands Wettbewerbsfähigkeit in der Region und eine ausgeglichene und nachhaltige volkswirtschaftliche Entwicklung". Dazu zitiert Kerus den folgenden Satz aus der Erklärung: "[...] jede nationale Position Lettlands im Bereich der Umweltpolitik wird auch durch das Prisma der energetischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit betrachtet, um den Umweltschutz mit der Nutzung land- bzw. waldwirtschaftlicher Flächen zu harmonisieren." Das bedeutet beispielsweise, dass die Waldbesitzer des staatlichen Betriebs LVM auch in geschützten Gebieten Bäume fällen, denn derzeit ist Holz auf dem Weltmarkt Mangelware, wovon die Waldwirtschaft profitiert (LP: hier).


Klaus Dörre hat das, was als "multifaktorielle Krise" des Planeten bekannt ist, als Zangenkrise beschrieben (youtube.de). Die weltweit verbreitete kapitalistische Form des Wirtschaftens kann die doppelte sozioökonomisch-ökologische Krise mit Wachstumsideologie nicht überwinden. Das lässt sich an einem Phänomen der Krisenjahre belegen: Solange Konjunktur herrscht, schadet das der Umwelt, dann wird im zunehmenden Maß Kohlendioxid freigesetzt. Nur in den Jahren, als wirtschaftliche Rezession herrschte, reduzierte sich der CO²-Ausstoß ein wenig. In der bisherigen Logik können sozial Benachteiligte allerdings nur besser gestellt werden, wenn die Wirtschaft wächst und der Zuwachs verteilt werden kann - sonst müsste man Reicheren etwas wegnehmen, wogegen deren PR Sturm liefe. Wenn die Wirtschaft schrumpft, stellt sich die Frage, wer am meisten einbüßt. Falls das die unteren Schichten sind, sollten sich die Herrschenden über Gelbwestenproteste nicht wundern. Es sind übrigens die Reichen und Wohlhabenden, die die Umwelt mit ihrem Lebensstil am meisten belasten und deutlich weniger die Armen, denn denen fehlt einfach das Geld dazu. 


Ich habe nicht den Eindruck, dass das derzeitige politische Personal der EU und der nationalen Regierungen dieses grundlegende Problem tatsächlich angehen will.


Udo Bongartz 




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