Asylbewerber finden in Lettland nur schwer ein Auskommen
01.04.2021
“Die Immigrationspolitik Lettlands ist hart”
Flüchtlingsboot 2015 im Mittelmeer, Foto: Irish Defence Forces CC BY 2.0, Link
“Ich bin traurig, habe eine schlechte Zeit, glücklich bin ich nicht gerade, das kann ich sagen. Du kannst dich nicht gut fühlen, wenn du fünf Jahre lang die ganze Zeit versuchst, neue Anträge zu schreiben. Und du siehst, dass du die ganze Zeit negative Antworten bekommst. Wenn irgendeiner meiner Bekannten hört, dass ich fünf Jahre ohne Papiere lebe, sagen alle: `Sag mal, fünf Jahre ohne Papiere. Wie lebst du?` Ich selbst weiß es nicht, wie ich lebe.” Diese Antwort erhielt die LSM-Journalistin Zane Mace im Interview mit einem Geflüchteten aus der kurdischen Region im Irak (lsm.lv).
Aus den Aussagen von Maces Reportage geht hervor, dass der irakische Kurde, der in der Stadt Slemani lebte, Fahrer der Peschmerga-Armee gewesen war, also jener Truppe, die wesentlich dazu beitrug, die Terroristen des sogenannten “Islamischen Staats” (IS) vor Bagdad zu stoppen. Die USA unterstützten die Peschmerga mit Luftangriffen; Deutschland und andere westliche Länder lieferten ihr Waffen. Die IS-Terroristen wurden besiegt, sind aber im Land geblieben und verbreiten bis heute ihren Schrecken. 2015 gelang ihnen ein Angriff auf die Peschmerga-Einheit, in der Maces Interviewpartner diente. Sie töteten einige seiner Kameraden; er selbst überlebte, doch er hinterließ persönliche Gegenstände, mit denen die Terroristen ihn identifizieren konnten. Sie forderten ihn auf, den Aufenthalt von Peschmerga-Kämpfern zu verraten, bedrohten ihn und seine Angehörigen mit dem Tod. Zunächst floh die Familie in einen anderen Teil des Iraks, doch die dortigen Behörden konnten ihr keinen Schutz gewähren. Besonders gefährdet war der Bruder, an dem sich die Terroristen stellvertretend rächen wollten. Der Peschmerga-Kämpfer musste auch die Hinrichtung durch seine Kameraden fürchten, weil er nun als Deserteur galt. Schließlich flüchteten der ehemalige Peschmerga-Kämpfer und seine Angehörigen nach Europa.
Ein Schlepper empfahl dem flüchtigen Iraker an der russisch-lettischen Grenze, die Visaseiten aus seinem Reisepass herauszureißen. Die lettischen Beamten sollten nicht erfahren, dass er aus Russland über die Grenze gekommen war. Obwohl die EU russische Menschenrechtsverletzungen beklagt und sanktioniert (dw.com), hat sie mit der Moskauer Regierung ein Rückübernahmeabkommen vereinbart, das ihren Mitgliedstaaten ermöglicht, abgelehnte Asylbewerber nach Russland zurückzuschicken. Menschenrechtler kritisieren diese Praxis, weil russische Behörden die Betroffenen wieder ins gefährliche Herkunftsland abschieben können (zeit.de).
Der zerrissene Pass bereitete fortan Probleme. Die lettische Ausländerbehörde forderte ihn auf, ein neues Dokument vorzulegen. Er fuhr zur irakischen Botschaft in Deutschland, die sich aber weigerte, ihm einen neuen Pass auszustellen. Die Ausländerbehörde lehnte seinen Antrag ab, weil er versucht hatte, seinen Fluchtweg zu kaschieren. Sein Antrag wurde mehrmals vor Gericht verhandelt. Ein psychiatrisches Gutachten bezweifelte, ob er unter posttraumatischen Belastungsstörungen leide. 2019 keimte Hoffnung, weil die Behörde einem anderen Iraker aus seiner Region den Aufenthalt genehmigt hatte. Danach stellte er erneut einen Asylantrag, der von einem Gericht abermals abgewiesen wurde. Die Richterin schätzte das Gewaltniveau im kurdischen Teil des Iraks als gering ein. Die Behörde folgerte, dass der ehemalige Peschmerga-Kämpfer für die Terroristen nach fünf Jahren nicht mehr von Interesse sei.
Der Betroffene hat inzwischen eine lettische Freundin, spricht gut Lettisch. Die private Initiative “Ich möchte Geflüchteten helfen” unterstützt ihn. Doch arbeiten darf er nicht, ohne Pass kommt er nicht mal in die Sporthalle. Ohne Pass kann er auch nicht in den Irak abgeschoben werden. Seine Situation ist fortwährend ungewiss. Nach der Genfer Flüchtlingskonvention dürfte er für illegalen Grenzübertritt nicht bestraft werden. Ieva Raubisko, eine Vertreterin der Initiative, beklagt den unerbittlichen Umgang der Ausländerbehörde mit den Antragsstellern: “Die Immigrationspolitik Lettlands ist hart, die von der Ausländerbehörde umgesetzte Asylpolitik ist in konkreten Fällen überaus hart. Die Haltung ist sehr strikt, doch ich würde sagen, dass sie nicht immer gerecht ist.” Mace erwähnt, dass auch der Ombudsmann für Menschenrechte die Missachtung des Gleichheitsprinzips durch die Ausländerbehörde kritisiere.
Liga Vijupe leitet die Abteilung für Asylangelegenheiten in der Ausländerbehörde. Sie betont, dass jeder Antrag individuell betrachtet und geprüft werde. Für sie ist es obligatorisch, dass die Antragssteller wahrheitsgemäß informieren, sich aktiv an Erkundigungen beteiligen, nicht lügen. Zum Asylkonzept gehöre es, Informationen aus dem Herkunftsland zu beschaffen. Das sei eine beträchtliche Arbeit, sowohl auf nationaler Ebene als auf EU-Ebene, um die Situation vor Ort besser zu verstehen. Als Beispiel nennt Vijupe Afghanistan. Um die Situation der Frauen dort und den Einfluss verschiedener Gruppen nachzuvollziehen, benötige die Behörde bestimmte Informationen. Auf dieser Grundlage werde bewertet, ob die Aussagen einer Person angemessen oder widersprüchlich sind.
Mace erwähnt einen Grund des reservierten Verhaltens lettischer Politiker und Beamten: Ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft erachte die Geflüchteten als Bedrohung. Besonders Politiker der mitregierenden Nationalen Allianz (NA) beherrschen es, die fremdenfeindliche Stimmung zu schüren. Als 2015 die EU-Kommission die lettische Regierung vereinbarte, gerade mal 500 der in Italien und Griechenland gestrandeten Flüchtlinge aufzunehmen, protestierten Nationalkonservative gegen die eigene Regierung. Wie andere osteuropäische EU-Länder lehnt auch Lettland eine Quotenregelung zur Verteilung von Geflüchteten ab und orientiert sich in dieser Frage an den Visegrad-Staaten. Raivis Zeltis, der bis im letzten Jahr für die NA als Generalsekretär Politik machte, empfahl einmal seinem Publikum, Samuel Huntingtons Buch “Kampf der Kulturen” zu lesen, das einen Kampf zwischen dem Westen und dem Islam vorhersagt (sueddeutsche.de). Betrachtet man die islamophoben Leser-Kommentare auf lettischen Webseiten, lässt sich schließen, dass Huntington wirksam war. “Der Islam passt nicht zu uns,” ist ein verbreitetes Bekenntnis. Dass die Not der Iraker im Zusammenhang mit eigenem militärischen Handeln steht, weil die lettische Armee sich 2003 am Angriffskrieg der USA gegen ihr Land beteiligte, diesen Zusammenhang verschleiert die nationalkonservative Polemik. Das Chaos, das der vom Westen propagierte “War on Terror” verursachte, hat den Terrorismus erst in den Irak gebracht (arte.tv).
Auch nach der Anerkennung als Asylbewerber bleibt das Leben der Geflüchteten in Lettland prekär und ungewiss. 139 Euro Unterstützung erhält ein Familienvorstand monatlich, weitere Angehörige 97 Euro. Das ist auch in Lettland zuwenig, um die Miete zu bezahlen. Wer keine Arbeit findet, verlässt das Land und versucht sein Glück in Westeuropa. Manche zogen weiter nach Deutschland und wurden auch dort von den Behörden abgewiesen; nach der Rückkehr in Lettland hatten sie keinen Anspruch mehr auf Sozialleistungen und waren fortan auf private Hilfe angewiesen. 2015 erreichten um die 400 Flüchtlinge lettisches Territorium. Im letzten Jahr waren es nur 147, von ihnen erhielten nur acht unbefristet Asyl, 17 den “alternativen Status”, der zu einem befristeten Aufenthalt berechtigt. 2019 hat Lettland pro eine Million Einwohner nur 93 Asylbewerber aufgenommen, in der EU erwiesen sich nur Estland, Polen, Ungarn und Schlusslicht Slowakei als noch abweisender (statista.com).
UB
Atpakaï