Lettische Regierung verringert Gas- und Strompreise und unterstützt sozial Benachteiligte
21.01.2022
Schwieriger Balanceakt zwischen sozialer und ökologischer Politik
Rigas TEC 2, eine mit Gas und Diesel betriebene Thermoelektrozentrale für die Erzeugung von Strom und Warmwasser, gebaut in den 70er Jahren, Foto: Gunar, Neaizsargâts darbs, Saite
Der Soziologe Klaus Dörre erläutert seine These von der ökologisch-ökonomischen Zangenkrise als “Highway to Hell” (youtube.de). Die westliche, wachstumsgetriebene Lebensweise, die sich durch Globalisierung auf dem ganzen Planeten ausdehnt, erfordert ständig steigenden Energiebedarf und Rohstoffverbrauch. Trotz aller Öko-Rhetorik ist eine Wende bislang nicht in Sicht, der weltweite Energieverbrauch ist unaufhaltsam, der CO²-Ausstoß nimmt weiterhin zu*. Zu dieser ökologischen Höllenfahrt gesellt sich die sozioökonomische: Dörre präsentiert den “Crocodile Graph”, ein Diagramm in Form eines Krokodilkopfs mit breit aufgesperrtem Maul: Auf dem in die Höhe weisenden Oberkiefer bilden sich die Profite der transnationalen Konzerne innerhalb der letzten Jahrzehnte ab, auf dem in die Tiefe weisenden Unterkiefer die Einkommen der abhängig Beschäftigten; der Spalt zwischen den Gewinnen der Anteilseigner und den Löhnen der Beschäftigten wird ständig größer; das ist eine weltweite Entwicklung. Hinzu kommt eine weitere brisante Tendenz, mit der der Ungleichheitsforscher Branko Milanovic Phänomene wie Trump, Brexit, AfD oder die lettische Protestpartei “Wem gehört das Land?” erklärt (Neuerdings lassen sich offenbar die von diffusen Gruppierungen getragenen Corona-Proteste hinzuzählen, wie FR-Journalist Stephan Hebel vermutet, der im Vertrauensverlust in gewählte Regierungen den tieferen Grund für Impfproteste und Maskenverweigerung sieht; Bill Gates als Projektionsfläche für den alltäglichen Frust (youtube.de)). Fortgesetzt wird die Safarifahrt zur Hölle mit Milanovic` Graphik: Seine “Elefantenkurve” demonstriert, dass Angehörige der unteren und mittleren Schichten in den Industrienationen die Verlierer des Globalisierungsprozesses darstellen (kontrast.at). Das über Jahrzehnte Versäumte verstrickt Gesellschaften in kaum noch lösbare ökologisch-soziale Widersprüche; eine erfolgreiche kapitalistische Wirtschaft erfordert beständiges Wachstum, ökologische Nachhaltigkeit aber das blanke Gegenteil. Die französische Gelbwesten-Bewegung, die infolge staatlich verordneter Benzinpreiserhöhungen entstand, war ein erster Warnschuss von Demonstranten der weniger begüterten Schichten, Ökopolitik nicht einseitig zu ihren Lasten zu betreiben. Die schockartig gestiegenen Energiepreise der letzten Wochen beinhalten eine gute ökologische und eine schlimme soziale Nachricht: Der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen ist in einer Marktwirtschaft nur durch deren fortwährende Verteuerung erreichbar. Doch steigende Heizkosten könnten dazu führen, dass sozial Benachteiligte demnächst in kalten Wohnungen hausen oder ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können. Die lettische Regierung hat die Brisanz der Lage erkannt und versucht mit Heizkostenzuschüssen gegenzusteuern.
Viele lettische Geringverdiener “müssen” im Warmen hausen, denn wie in sowjetischer Zeit beliefern Gaskraftwerke die Rigaer Plattenbauten am Stadtrand mit Fernwärme, so dass die Heizkörper vom Bewohner nicht reguliert werden können. Die Wohnung ist immer beheizt, egal ob jemand anwesend ist oder nicht. Die stets warmen Heizkörper kommen in diesen Tagen teuer zu stehen: Auf der lettischen Gasbörse betrug der Preis vor einem Jahr 16,08 Euro pro Megawattstunde, inzwischen ist er bei 115,98 Euro angelangt (gaso.lv).
Wirtschaftsminister Janis Vitenbergs ließ gegensteuern: “Im Januar wäre der Preisanstieg für die Verbraucher ohne staatlichen Eingriff sehr, sehr stark gewesen, zwischen 53 und 90 Prozent. In manchen Haushalten hätte sich der Preis fast verdoppelt. Mit der Förderschwelle von 34 Euro pro MWh wird das Niveau vorhergehender Rechnungen gehalten, wie sie zwischen Juli und Dezember 2021 ausgestellt wurden,” erläuterte er der Presse (tvnet.lv).
Die Regierung plant nicht nur, Strom-, Heiz- und Gasrechnungen zu senken. Sandris Sabajevs, Pressesprecher des Ministerpräsidenten, erläuterte weitere geplante Maßnahmen. Die in der Corona-Krise beschlossenen Unterstützungszahlungen für ärmere Haushalte sollen verlängert werden, außerdem wird jede Familie pro Kind bis Mai monatlich 50 Euro zusätzlich erhalten, inklusive Studierender bis 24 Jahre, bedürftige Rentner und Behinderte erhalten 20 Euro. Insgesamt plant die Koalition ein Unterstützungspaket in Höhe von 250 Millionen Euro für Energieverbraucher, Bezieher geringer Einkommen, Rentner, Behinderte und Unternehmen. Über die Einzelheiten konnte sich das Ministerkabinett am 17. Januar 2022 noch nicht einigen. Nun sollen die Beschlüsse auf der nächsten Sitzung gefasst werden.
Nach der letzten Kabinettsitzung äußerte Ministerpräsident Krisjanis Karins seine Vorstellungen von der zukünftigen Energiepolitik. Er möchte in den kommenden Wochen ein Konzept ausarbeiten lassen, um den Übergang von der fossilen zur erneuerbaren Energieversorgung in Angriff zu nehmen. Langfristig solle sich Lettland unabhängig von Öl und Gas machen. Für einen Balten hat das nicht nur ökologische Gründe. Unabhängig möchte sich Lettland damit auch von Russland machen, dem Karins vorwarf, den Gasvertrieb “offen zu manipulieren”. Alle Minister stimmten darüber ein, in welcher Weise die Regierung die Unterstützungszahlungen erweitern könne und was der gesamten Situation am besten entspreche. Zudem dürften die kurzfristigen Maßnahmen nicht im Widerspruch zu den langfristigen stehen.
Der Politikwissenschaftler Janis Ikstens meinte auf LTV1, dass seine Landsleute diese Entlastung den bevorstehenden Saeima-Wahlen im Herbst zu verdanken hätten, zur Energiepreiskrise sagte er: “Wir können nur glücklich sein, dass sie sich im Wahljahr ereignet. Denn ich bin vollkommen sicher, falls dies kein Wahljahr wäre, würden wir überhaupt kein 250-Millionen-Euro-Paket sehen. So wird es, wenn auch verspätet, doch wundersamerweise für viele Menschen eine recht spürbare Entlastung geben.” (lsm.lv)
*Nur 2009 und 2020 gab es krisenbedingte Rückgänge des weltweiten CO²-Ausstoßs.
UB
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