Lettisches Centrum Münster e.V.

   
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Survival-Kit-Festival 13: Kuratorin iLiana Fokianaki erläutert ihre Überlegungen zur Veranstaltung
26.08.2022


Vom freien Vögelchen außerhalb des Käfigs und vom weißen Elefanten im Raum

Der griechische Soziologe und Philosoph Nicos Poulantzas, Foto: ciepfc.fr, Fair use, Link

Seit der Finanzkrise hat sich das einst in der Not geborene Kunstfestival Survival Kit zu einem international beachteten Ereignis entwickelt. In jedem Frühherbst wählten die Kuratorinnen des Lettischen Zentrums für zeitgenössische Kunst (LCCA) eine verlassene Immobilie, damit sich dort Künstler aus dem In- und Ausland wochenlang mit aktuellen gesellschaftspolitischen Problemen auseinandersetzen konnten. In alten Fabrikhallen, jahrzehntelang unbenutzten Sälen, an denen der Zahn der Zeit seine Spuren hinterlassen hatte, sah das Publikum moderne Gemälde, Skulpturen, Installationen, Videos. Die Organisatoren luden zu interessanten Vorträgen und Diskussionsveranstaltungen. Doch inzwischen scheint sich das Festival zu ändern. Im letzten Jahr wurde erstmals Eintrittsgeld verlangt und die Ausstellungen und Veranstaltungen fanden nicht in den Lost places der Rigaer Architektur, sondern in Museen statt. Zudem kuratiert das LCCA das Festival nicht mehr selbst, sondern bittet internationale Kunstexpertinnen, diese Aufgabe zu übernehmen. In diesem Jahr übernimmt die Griechin iLiana Fokianaki Planung und Organisation. Vom 2. September bis zum 16. Oktober 2022 wird das ehemalige, nun leerstehende, aber gut erhaltene Bankgebäude am Domplatz, das 1888 der Architekt Heinrich Karl Scheel errichten ließ und derzeit für 8,5 Millionen Euro zum Verkauf steht (domimaps.lv), Ort des 13. Survival-Kit-Festivals. In einem veröffentlichten Statement teilte Fokianaki ihre Vorstellungen zum diesjährigen Künstlertreffen mit, das unter dem Titel "Der kleine Vogel muss gefangen werden" steht (lcca.lv).


Der narzisstische Autoritarismus

Fokianaki ließ sich vom lettischen Dichter Ojars Vacietis inspirieren, der in Tiermetaphern seine Kritik an der repressiven sowjetischen Herrschaft thematisierte. Der frei herumfliegende und singende kleine Vogel, der Eier legen und Nachwuchs aufziehen könnte, repräsentiert poetisch und ironisch die Redefreiheit und den Widerstand gegen den Autoritarismus. Für die Festivalleiterin ist Vacietis` freier Vogel eine zeitgemäße Stellungnahme “in einer globalen Realität, bei der die freie Rede und Selbstbestimmung von rechtsradikalen Politikern, Nationalismen und Autoritarismen bedroht sind.” Ihre Überlegungen basieren auf der Theorie ihres Landsmannes Nicos Poulantzas, der auf marxistischer Basis die Tendenz zum autoritären Etatismus analysierte, den er bereits Ende der siebziger Jahre beobachtete, nicht nur in Diktaturen, sondern auch in Staaten und Gesellschaften, die sich frei und demokratisch wähnen (freitag.de). Poulantzas betrachtete den Nationalstaat als eine bestimmte Konstellation unterschiedlicher Gewalten und Interessen, in der eine zum Autoritären neigende Governance die Macht zugunsten von Kapitalinteressen ausübt. Fokianaki erkennt in sich autoritär gebärdenden Machthabern wie Trump, Putin, Johnson oder Orban die narzisstische Variante dieser Herrschaftsform, die in demokratischen Wahlen an die Macht gelangt, mit Fake News die politischen Gegner anschwärzt und populistisch Mehrheiten gegen Minderheiten aufwiegelt. Diese Spielart des autoritären Regierens kombiniert Nationalstaatliches mit Transnationalismus: „Ich verstehe den narzisstischen autoritären Etatismus als eine neoliberale Machtstruktur, die alte Komponenten des Nationalstaats mit zeitgenössischen Formen des korporativen Transnationalismus verschmilzt, die beide durch eine narzisstische Führung definiert sind.“ Heutzutage sei dieser narzisstisch-autoritäre Dirigismus eine Epidemie, die sich sowohl im Osten wie im Westen verbreite.  


Der kleine Vogel Lettland

Survival-Kit-13 findet am Domplatz statt. Fokianaki erinnert daran, dass der Ort ein Symbol des lettischen Widerstands wurde. Ende der 80er Jahre motivierte Michael Gorbatschows Reformpolitik zur freien Meinungsäußerung. Lettische Aktivisten widersetzten sich einem weiteren Wasserkraftwerk in der Daugava und dem Bau der Rigaer U-Bahn, weil sie ökologische Schäden und Verlust von kulturellem Erbe ebenso befürchteten wie den Zuzug weiterer Arbeiter aus anderen Teilen der Sowjetunion, so dass den Letten drohte, zur Minderheit auf eigenem Territorium zu werden. Die lettische Helsinki-Gruppe 86 demonstrierte am Nationaldenkmal für ein unabhängiges Lettland. Die friedliche Singende Revolution der Balten führte schließlich zum sowjetischen Rückzug der widerrechtlich okkupierten Gebiete; 1991 feierte Lettland die wiedererlangte Unabhängigkeit. Die Ausstellung wird sich mit kulturellen Praktiken beschäftigen, die sich der Repression widersetzen. In diesem Zusammenhang beantwortet die Kuratorin die Frage, ob in Krisenzeiten Kunst notwendig sei, mit einem eindeutigen „Ja“. Die Letten besannen sich auf ihre alten Volkslieder, ihre Musik wurde zum Widerstand. Das Festival will erforschen, in wie fern Kunst an solchen Emanzipationsbestrebungen beteiligt ist. Fokianaki beauftragte u.a. lettische Künstler. Sabine Sne gestaltet eine Installation, die Mutter Erde verkörpert, die aufgrund der Umweltzerstörung bestimmte Geräusche von sich gibt. Kriss Salmanis, der die provozierende Putin-Karikatur gegenüber der russischen Botschaft verantwortet, in der er Putins Gesicht mit einem Totenschädel vermischt (LP: hier), versucht den Klang von Erschöpfung, Schock und Verzweiflung einzufangen, die im Krieg nicht nur jene zu hören bekommen, die ihm ausgesetzt sind, sondern auch jene, die ihn miterleben müssen. Das Duo Juris Boiko und Hardijs Ledins verabschiedet die Repressionen des sowjetischen Imperiums mit einer andauernden musikalischen Aktion auf satirische Weise. Kristaps Epners spürt den kulturellen und religiösen Praktiken in Lettland nach und erforscht die historische Verfolgung einer bestimmten Splittergruppe der orthodoxen Kirche.


Lettland und der weiße Elefant im Raum

Fokianaki zollt der in weiten Teilen tragischen Geschichte Lettlands im letzten Jahrhundert berechtigten Respekt. Dieser hält die Griechin offenbar davon ab, ihre abstrakt formulierte Kritik an Herrschaft und Gesellschaft auf das heutige Lettland zu übertragen und zu konkretisieren. Gewiss war der lettische Befreiungskampf gegen die autoritäre Sowjetherrschaft eine zu begrüßende Emanzipationsbewegung. Aber sie hatte auch Schattenseiten, deren Folgen in der lettischen Gesellschaft bis heute sichtbar sind: Ein ausgrenzender Nationalismus, der ein Großteil der Bevölkerung zu Nichtbürgern erklärte, und ein Neoliberalismus, der in Krisenzeiten autoritär und technokratisch die sozialen Existenzen der eigenen Bürger aufs Spiel setzt: Auch dafür bietet Lettland Beispiele, leider unrühmliche. Waren Kirchen in der Vergangenheit Opfer staatlicher Verfolgung, so beteiligen sich Kleriker heutzutage an nationalkonservativen Kampagnen, sexuellen Minderheiten ihre Rechte vorzuenthalten. Als die reiche Finanzelite sich in den Krisenjahren um 2009 verzockte, sorgte die lettische Regierung in Abstimmung mit EU und IWF dafür, dass die Einwohner Lettlands mit herben Gehaltskürzungen, Erwerbslosigkeit und Emigration die Zeche zahlten. Fokianaki hätte auch daran denken können, wie lettische Politiker auf internationaler Bühne einforderten, dass griechische Einwohner einer ähnlich unerbittlichen Austeritätspolitik unterworfen wurden, wie sie es der eigenen Bevölkerung zugemutet hatten. Zudem hätte sich thematisieren lassen, dass der sehr verengte lettische Diskurs zum russischen Militarismus nur militaristische Antworten zulässt. Kritik, die sich auf ferne Orte oder auf die Vergangenheit bezieht, erscheint für eine Ausstellung, die politisch Position beziehen und Debatten anregen möchte, allzu wohlfeil. Kunst hat eine provozierende Seite, die hier leider nicht zum Vorschein kommt. Der lettische Nationalismus und Neoliberalismus bleiben der weiße Elefant im Raum.


Udo Bongartz




 
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