Lettische Kommentare zur Bundestagswahl
25.09.2013
Fröhliche Gesichter deutscher Wahlgewinner waren in lettischen Nachrichtensendungen zu sehen. Die Bundestagswahl vom 22.9.2013 beschäftigte auch die Medien hierzulande. Sie werten die Entscheidung der deutschen Wähler als wichtiges Ereignis für den Kontinent. Journalisten, Politiker und Wissenschaftler kommentierten den Sieg der Christdemokraten überwiegend wohlwollend. Manche weisen aber auf teilweise unterschiedliche Interessen zwischen Letten und Deutschen hin.
Deutsche Botschaft in Riga, Foto: LP
Deutschland - konkurrenzfähig in aller Welt
Ein erwartbares Lob äußerte die Vienot?ba-Politikerin Inese Vaidere. Ihre Partei, die in Lettland den Regierungschef stellt, gehört wie die deutschen Christdemokraten der Straßburger EU-Fraktion der Europäischen Volksparteien (EVP) an. Gegenüber der Tageszeitung Diena bekannte die EU-Abgeordnete am Tag nach der deutschen Wahlentscheidung ihre große Freude über Merkels Wahlsieg. Das sei eine „großartige Nachricht für Europa, besonders für die Stabilität der Eurozone. Entschlossen, notwendige Reformen durchzuführen, ist Deutschland unter Merkels Führung in der Lage gewesen, ein beachtliches Wohlstandsniveau zu erreichen und zugleich seine Wettbewerbsfähigkeit auf internationaler Ebene zu stärken. Deutschlands Wirtschaft ist derzeit in einer großartigen Verfassung, seine Exportprodukte konkurrenzfähig in der Welt und die Arbeitslosenquote beträgt 5,3 Prozent, es ist die zweitniedrigste in Europa hinter Österreich.“ Und zum weiteren deutsch-lettischen Verhältnis meint Vaidere: „Das Wahlresultat ist bedeutend für Lettland, denn auch zukünftig können wir mit Deutschland als stabilen Partner in Europa rechnen, der eine auf langfristige Entwicklung gerichtete Politik betreibt. Deutschland wird weiterhin ein bedeutendes Gegengewicht gegen jene EU-Staaten bilden, deren Regierungen von kurzfristigen Erwägungen geleitet eine unausgewogene Wirtschaftspolitik wünschen. Merkels Pragmatismus wird in den weiteren Gesprächen über einige gewichtige Fragen, die die Stabilität der Eurozone betreffen, entscheidend sein, etwa bei der Gestaltung einer Bankenunion und bei zusätzlichen Krediten für Griechenland.“
Eine Reihe deutscher Fabrikate in Riga, Foto: LP
Deutschland, der Krisenprofiteur
Toms Anc?tis beobachtete für die Tageszeitung Latvijas Av?ze den Vorabend zur Wahl in Berlin. Er überschrieb seinen Artikel mit dem Satz „V?cij? p?r?k labi, lai v?l?tos p?rmai?as“ (In Deutschland ist die Lage zu gut, um sich Veränderungen zu wünschen). Er hat keine Wechselstimmung erkannt. Laut Umfragen sei eine große Mehrheit der Deutschen mit ihrer Situation zufrieden. In Ostberlin bemerkte er allerdings in einem Plattenbauviertel, dass nur wenige zur Wahl gingen. Dort sprach er mit einem Rentnerpärchen, das noch seine Kreuzchen machte. Die beiden hofften auf soziale Verbesserungen, denn zuviel sei auf den Schultern der kleinen Leute abgeladen worden. Anc?tis erklärte seinen Lesern auch, dass Deutschland von den Schulden der Krisenländer profitiert: Erstmals seit 40 Jahren sei Deutschland in der Lage, seine Staatsverschuldung zu reduzieren: „Auf paradoxe Art sichert die Schuldenkrise der Eurozone Deutschland diese Erfolge. Obwohl Deutschland ein beträchtliches Risiko übernommen hat, indem es für die Krisenstaaten der Eurozone milliardenteure Kreditgarantien unterzeichnete, hat die Rettungsaktion dem Steuerzahler real bislang keinen Cent gekostet. Ganz im Gegenteil - Die Krise der Eurozone bringt Deutschland Gewinn. Dieser entsteht durch die Zinszahlungen Griechenlands und anderer Länder für die vergebenen Kredite, aber auch durch die Möglichkeit, weniger Zinsen für die eigenen Staatsanleihen auszuzahlen, denn die Banker sind bereit, Deutschland sogar Geld bei Negativzinsen zu borgen.“
20-Milliarden-Mark-Briefmarke von 1923 - das Wort "Inflation" sorgt heute noch für Hysterie in Deutschland, Foto: Wikimedia Commons
Für Lettland wäre höhere Inflation günstiger
Tvnet.lv befragte P?teris Strauti?š, einen Ökonomen der DnB-Bank, was er von Merkels Wahlsieg halte. Er sieht ein gemeinsames Interesse der Letten und Deutschen darin, möglichst wenig für die EU-Krise zu zahlen. Lettland gehöre nicht zu den Staaten, deren Schulden unbezahlbar seien. Merkels Position skizzierte er in ihrem Widerstand gegen Eurobonds, gegen einen Schuldenschnitt für Griechenland und gegen eine zu rasche Ausrichtung auf eine Bankenunion, die für den deutschen Steuerzahler zur Bürde werden könne. Doch Strauti?š sieht nicht nur Gemeinsamkeiten. Um Lettlands Auslandsschulden zu verringern, wünscht er sich - im Gegensatz zur Deutschen Bundesbank - deutlich mehr Inflation in der Eurozone: „Ich denke, dass Lettland nach Möglichkeit an einer höheren Inflation in der Eurozone interessiert wäre (soweit dies juristisch und politisch überhaupt möglich ist, im Gespräch ist eine gewisse geringe Abweichung vom Inflationsziel von 2 Prozent).“ Er begründet dies mit Lettlands Auslandsverschuldung, die 38,3 Prozent vom BIP betrage. Eine etwas größere Inflation könne diese Schuldenlast mildern. Zudem vermindere eine etwas stärkere Geldentwertung die Gefahr des Staatsbankrotts in Südeuropa, das verringere wiederum die eigenen finanziellen Risiken. Deutschland hingegen sei dem Ausland gegenüber in einer Gläubigerposition und habe Interesse an einer entgegengesetzten Geldpolitik.
Gebäude der EU-Kommission in Brüssel, Foto: Paasikivi auf Wikimedia Commons, Lizenz
Christdemokratische Unterstützung für einen EU-Kommissionspräsidenten Valdis Dombrovskis?
Andris Spr?ds, Direktor des Latvijas ?rpolitikas instit?ts (Lettisches Institut für Außenpolitik), spekuliert über die Auswirkungen von Merkels Wahlsieg für die Karrierepläne des lettischen Regierungschefs Valdis Dombrovskis. Ihm werden Ambitionen nachgesagt, nächster Vorsitzender der EU-Kommission zu werden. Spr?ds meint, dass Merkel und Dombrovskis gemeinsame politische Überzeugungen teilten. Doch man müsse annehmen, dass die Kanzlerin nicht schon auf einen Sieg ihres lettischen Kollegen setze. Dieser verringerte seine Chancen vor ein paar Tagen selber: Als jüngst die Katalonier nach baltischem Vorbild eine Menschenkette durch ihre Region bildeten, um für die nationale Unabhängigkeit zu demonstrieren, stellte der lettische Regierungschef, der mehrmals eigene missliebige Minister öffentlich wegen mangelnder Professionalität kritisierte, die zukünftige diplomatische Anerkennung eines katalonischen Staates in Aussicht. Prompt gab es Verwicklungen mit der spanischen Regierung.
Externe Linkhinweise:
diena.lv: Vaidere: Merkeles uzvara vairos stabilit?ti V?cij? un Eirop?
tvnet.lv: Vai Latvijai b?s j?maks? par Grie?ijas par?da norakst?šanu?
la.lv: V?cij? p?r?k labi, lai v?l?tos p?rmai?as
focus.lv: Eksperti: Radik?las izmai?as V?cijas ?rpolitik? p?c v?l?šan?m nav gaid?mas
zurück