Muižnieks ist Kommissar des Straßburger Europarats, dem 47 Staaten angehören. Am 15.1.13 veröffentlichte der Lette eine Forderung im Internet, die hauptsächlich seine Heimat betrifft. Er appelliert an alle europäischen Regierungen, Kindern automatisch die Staatsbürgerschaft zu erteilen. Lettland hat die meisten Staatenlosen innerhalb Europas. Nach der wieder erlangten Unabhängigkeit von 1991 verwehrte der lettische Gesetzgeber jenen Immigranten die Staatsbürgerschaft, die erst mit der sowjetischen Okkupation von 1940 ins Land gekommen waren. Auch ihre Nachkommen erhalten den lettischen Pass nicht automatisch. Derzeit haben in der mittleren Baltenrepublik noch zirka 300.000 meist russischstämmige Bürger einen lettischen „Alien Pass“, sind also staatenlos, dürfen sich aber unbefristet in Lettland aufhalten. Damit hat sich die Zahl jener, die in Lettland nicht an demokratischen Entscheidungen teilnehmen dürfen, von etwa 700.000 Anfang der 90er Jahre auf weniger als die Hälfte reduziert. Die Gründe sind Abwanderungen, aber auch ein erleichtertes Naturalisierungsverfahren. Wer Lette werden will, muss einen Sprachtest bestehen. (Manche Russischstämmige ignorieren die Staatssprache bis auf den heutigen Tag). Muižnieks sorgt sich vor allem um staatenlose Kinder. Auch hier liegt Lettland mit ca. 9.000 Minderjährigen ohne Nationalität vorn.
Der lettische Pass für "Nichtbürger", Foto: Lettische Wikipedia
Lettische (Des)Integrationspolitik
Nachkommen russischstämmiger Immigranten können heutzutage den `richtigen` lettischen Pass bekommen, wenn die Eltern ihn bei den Behörden beantragen. Nicht alle tun dies. Fehlende Staatsbürgerschaft hatte auch einen Vorteil: Solange Wehrpflicht bestand, mussten staatenlose Männer nicht zur Armee und Russland verlangt für lettische Nichtbürger kein Visum. Für viele Russischstämmige hatte der Entzug der Staatsbürgerschaft jedoch schlimme soziale Folgen: Sie verloren beispielsweise als Lehrer oder Polizist ihren Arbeitsplatz. Dabei ist eine einseitige Verurteilung lettischer (Des)Integrationspolitik unangebracht: Was würde ein Deutscher dazu sagen, wenn der Verkehrspolizist, der ihn auf der A3 anhält, nur Türkisch redete? Wahrscheinlich nichts, ihm fehlten einfach die Worte. Letten hingegen sprechen häufig perfekt Russisch - weil die sowjetischen Besatzer eine strikte Russifizierung des Landes durchsetzten. Ein wichtiger Grund für das lettische Unabhängigkeitsbestreben bestand darin, die Muttersprache der Mehrheitsgesellschaft wieder als Staatssprache zu etablieren. Lettisch ist dem Russischen kaum ähnlicher als das Deutsche dem Türkischen. Mangelnde Sprachkenntnisse sind das Haupthindernis für Russischstämmige, die Staatsbürgerschaft in den baltischen Ländern zu erwerben.
An dieser Stelle nahm sich der staatenlose Wadim K. am 20.1.2010 das Leben, Foto: Wadim - Der-Film.de
Staatenlosigkeit ermöglicht Ausbeutung und Verbrechen
Muižnieks appelliert an die Verantwortung der Politiker: „Die Regierungen Estlands und Lettlands erlaubten, dass eine solche Situation Bestand hat, erlaubten den Eltern, den Status zu wählen, das ist nicht im Interesse der Kinder.“ Der Menschenrechtskommissar sieht in der Staatenlosigkeit auch ein soziales Problem. Gerade die Ärmsten und Ausgegrenzten seien betroffen: „Minderheiten, Heimatvertriebene, Flüchtlinge, Waisen und Analphabeten. Staatenlosigkeit vermehrt die Verletzbarkeit der Kinder bis hin zu schwerwiegenden Menschenrechtsverstößen, wie z.B. Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, Ausnutzung von Arbeitskräften, aber auch illegale Adoption. Dies bedeutet, dass staatenlose Kinder sich häufig vielfältigen, sich wechselseitig verstärkenden Formen der Ausgrenzung ausgesetzt sehen.“ Muižnieks fordert die europäischen Regierungen auf, nicht weiter historische Gründe, andere Staaten oder „verantwortungslose Eltern“ für den Missstand verantwortlich zu machen. Stattdessen müssten die Politiker selbst die Initiative ergreifen. Dass Staatenlosigkeit verhängnisvoll sein kann, zeigte noch jüngst die TV-Dokumentation über das Schicksal von Wadim K.: Seine russischstämmigen, staatenlosen Eltern hatten in den neunziger Jahren in Hamburg Asyl beantragt. Wadim wuchs - abgesehen von seiner Behausung in Notunterkünften - wie ein Deutscher auf. Die Hamburger Ausländerbehörde versagte ihm aber die dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung - diese wäre eine Voraussetzung für eine deutsche Staatsbürgerschaft gewesen. Am 20.1.2010 nahm er sich auf den Gleisen einer S-Bahn das Leben. Er wurde nur 23 Jahre alt.
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Externe Linkhinweise:
humanrightscomment.org: Governments should act in the best interest of stateless children
ir.lv: Muižnieks: Piedzimstot visiem b?rniem autom?tiski pien?kas pilson?ba
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