Lettisches Centrum Münster e.V.

   

Armut in Lettland, Stagnation in Europa – Die Einkommensunterschiede sind in der EU höher als in den USA, Russland oder Indien
16.05.2015


Rabe in Liepaja in einer SiedlungDie Europäische Union ist Friedensnobel-preisträgerin. Sie steht für Hehres, für Würde, Freiheit, Bürgerrechte, Justiz, Solidarität und Gleichheit. Solidarität und Gleichheit? Das bezweifeln so manche EU-Bürger. Die Erfahrungen im Alltag sind andere. Stellenlose bemühen sich aussichtslos um neue Jobs, Niedriglöhner kommen kaum über die Runden, Rentner bessern als Nachtwächter oder mit dem Sammelbecher ihr zu bescheidenes Einkommen auf, Familien beziehen Nahrung und Kleidung von der Wohlfahrt, Obdachlose durchsuchen Müllcontainer nach Essbarem. Die Trennung zwischen Armen und Reichen scheint unüberwindbar. Dass dies zum Verdruss führt und an den hehren Werten Europas zweifeln lässt, ist nur selten Thema, weder in Brüssel, noch in den nationalen Hauptstädten. "Die EU ist keine Sozialunion," behauptete Angela Merkel vor der Europa-Wahl im letzten Jahr. So entlarvt sich das eigentlich ehrbare Ziel, die Lebensverhältnisse eu-weit anzugleichen, als fades Geschwätz. Gerade veröffentlichten Michael Dauderstädt und Cem Keltek Zahlen, die den Spalt zwischen Arm und Reich aufzeigen.

Rabenvogel in Liep?ja, Foto: LP

60 Prozent der lettischen Einwohner gehören eu-weit zu den ärmsten 20 Prozent

Die beiden Autoren der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) kritisieren, dass die Eurostat-Statistiker die soziale Ungleichheit mit "methodisch unsinnigen” Zahlen schönfärben. Denn sie geben nur den Durchschnitt nationaler Werte an, ließen die beträchtlichen Einkommensunterschiede, die zwischen den EU-Ländern bestehen, aber außer Acht. Dauderstädt und Keltek berechnen dagegen die Ungleichheit in zwei Stufen. Zunächst nehmen sie die Eurostat-Werte. Die Einwohner eines Landes werden je nach der Höhe ihres Einkommens in fünf Fünftel (= Quintile, Q) geteilt, für jede Gruppe wird das Durchschnittseinkommen angegeben. Danach ermitteln sie, wieviele Fünftel eines Landes zu den Reichsten oder Ärmsten in der EU gehören. In der folgenden Tabelle sind zehn Beispiele aufgeführt.

Die Rumänen bewohnen mit sämtlichen Einkommensgruppen das EU-Armenhaus, also das unterste Quintil. Doch auch in den baltischen Ländern zählt noch das mittlere Fünftel Q3 zum ärmsten Fünftel in Europa. Das Einkommen ist in dieser Statistik nicht nominal beziffert, sondern nach Kaufkraftstandards. Das heißt: Die unterschiedlichen Preisniveaus der Mitgliedstaaten wurden herausgerechnet. Diese bestehen nicht nur zwischen verschiedenen Währungen, sondern auch innerhalb der Euro-Zone. Ein Zehn-Euro-Schein ist in einem Euro-Land mehr wert als in einem anderen. Für Lettland ist beispielsweise das nominale Euro-Jahreseinkommen des ärmsten Fünftels Q1 noch geringer, es betrug im Jahr 2013 gerade mal 1902 Euro (anstelle von 2671 KKS-Euro). Das reichste Fünftel Rumäniens ist im Durchschnitt ärmer als das ärmste Deutschlands (Das bedeutet nicht, dass  die reichen Länder keine sozialen Probleme hätten.) Dann markierten die Forscher jene Quintile rot, die gemeinsam das ärmste Fünftel der gesamten EU bilden. Die grün gefärbten Quintile zählen zum reichsten EU-Fünftel.


Jahres-Pro-Kopf-Einkommen der Quintile ausgewählter EU-Länder 2013 in KKS-Euro, nach Steuern

Q1

Q2

Q3

Q4

Q5

Q5/Q1

Rumänien

1346

2685

3834

5237

8813

6,55

Lettland

2671

4756

6596

9337

16877

6,32

Estland

3661

6206

8445

11652

20262

5,53

Litauen

3075

5350

7364

10109

18559

6,04

Polen

4265

7031

9291

12154

20792

4,88

Griechenland

3221

6409

9206

12159

21128

6,56

Deutschland

9114

14835

19166

24785

41926

4,60

Österreich

9927

16342

20642

25936

40786

4,11

Irland

9633

14916

19893

27511

50416

5,23

Schweden

9750

15851

20080

24610

36368

3,73

Luxemburg

13376

20583

27304

35647

61380

4,59

Solche Tabellen lassen sich je nach Interessenlage recht unterschiedlich interpretieren. Die nationale Einkommensdifferenz zwischen dem reichsten und ärmsten Fünftel ist in Lettland mit 14.206 KKS-Euro geringer als in Deutschland mit 32.812 KKS-Euro. Teilt man aber das Einkommen des reichsten Quintils mit dem des ärmsten, fällt der Quotient für Lettland mit 6,32 höher aus als für Deutschland mit 4,60. Das Forscherduo kritisiert die Eurostat-Statistiker, die für die gesamte EU 27 (ohne Kroatien) seit 2005 einen konstanten Gesamtquotienten von etwa 5 berechnen, dabei aber von den Quintil-Differenzen, die zwischen den Ländern bestehen, absehen. Dauderstädt und Keltek kommen auf andere Werte, die auf eine größere soziale Ungleichheit hindeuten. Dabei ermitteln sie unterschiedliche Tendenzen. Nominal in Euro betrug der Ungleichheitsquotient 2007 mehr als 11, fiel zur Zeit der Finanzkrise auf etwa 8,5 und stieg seitdem wieder auf 9,5. In Kaufkraftstandards sind die Unterschiede geringer. Hier bezifferten sie 2007 einen Quotienten von etwas über 7, der zur Zeit des Bankencrashs auf unter 6 abfiel, sich um 2010 wieder auf 7 vergrößerte und sich seitdem wieder dem Wert 6 nähert. Die Autoren führen die Diskrepanz auf Währungsschwankungen und unterschiedliche Inflationshöhen zurück. Sie weisen darauf hin, dass nach ihren Ergebnissen die Einkommensunterschiede innerhalb der EU höher seien als in den USA, Indien oder Russland. Quelle: fes.de: Dauderstädt, Keltek - Das soziale Europa in der Krise (PDF)

 

Wachstum als Ausweg?

Auch wenn die Resultate der FES-Autoren eine stärkere Dynamik aufweisen als die stagnierenden Eurostat-Zahlen, so deuten sie doch auf einen Missstand, den Politiker und Mainstream-Journalisten, um es vorsichtig zu formulieren, kaum beachten, dazu Dauderstädt und Keltek: “Der zentrale Befund der letzten Jahre ist die Stagnation der Ungleichheit. Das Versprechen des sozialen Europa, die Einkommensunterschiede in der EU abzubauen, wird kaum mehr erfüllt. Ohne kräftiges Wachstum in den ärmeren Ländern bleibt die Ungleichheit weiter hoch. Aber woher soll das Wachstum kommen? Deutschland und wichtige Instanzen der EU setzen weiter auf Strukturreformen und Sparpolitik, deren Wachstumseffekte nicht zu erkennen sind. Inzwischen hat immerhin die neue EU-Kommission erkannt, dass andere Politiken notwendig sind."

Gemäß dieser Logik hat sich die Situation in den baltischen Ländern leicht gebessert. Nach tiefer Rezession wächst die lettische Wirtschaft dank EU-Fördermitteln wieder. Doch so schnell werden 60 Prozent der mittleren Baltenrepublik dem EU-Armenhaus nicht entkommen. Der Brüsseler Austeritätskurs dämpft die lettische Konjunkturerwartung. Gerade verkündete J?nis Platais, Vorsitzender des Ausschusses für Fiskaldisziplin im lettischen Finanzministerium, dass der Fiskus im nächsten Jahr erneut 113,8 Millionen Euro kürzen müsse. Dies sei dem verringerten Wachstumstempo und der mäßigen Inflationserwartung geschuldet. Hier macht sich der Fiskalpakt bemerkbar, der staatliches Schuldenmachen strikt einschränkt.

Auch lettische Brücken sind reparaturbedürftig, der Staat müsste mehr in Bildung investieren und Sozial- und Gesundheitsbehörden leisten nur ungenügend Daseinsvorsorge. Da Brüssel neue Schulden verbietet, wären Steuererhöhungen für reichere Einkommensgruppen und Steuererleichterungen bzw. Sozialleistungen für ärmere eine Alternative. Doch die lettische Flattax, die Einkommenssteuer, die von großen wie kleinen Gehältern denselben Prozentsatz einbehält, bestätigt hingegen soziale Ungleichheit, statt sie mit progressiver Staffelung zu mildern. Die Kapitalsteuern sind auch hierzulande niedriger als jene auf Arbeit.

Zudem bleibt fraglich, ob das Ziel sozialer Gerechtigkeit von Konjunkturerwartungen abhängig sein sollte. Was nützt es dem ärmsten Quintil, bei wachsender Wirtschaft ein wenig mit zu profitieren, wenn ihm in der nächsten Rezession die sogenannten "sozialen Wohltaten" doch wieder genommen werden? In den letzten Jahrzehnten erwies sich keine europäische Konjunkturphase als derart nachhaltig, dass sie sozial Benachteiligten eine Perspektive zur gesellschaftlichen Integration geboten hätte. Vielleicht änderte sich der Status vom Erwerbslosen zum Billigjobber, doch die nationalen Niedriglohnsektoren – Lettland hatte 2010 den relativ größten - lösen Europas Probleme nicht. Dauderstädts und Kelteks Empfehlungen weisen in die richtige Richtung. Die süd- und osteuropäischen Länder benötigen mehr Investitionen in ihre Wirtschaft, um mit den West- und Nordeuropäern konkurrieren zu können. Das heißt: Sie benötigen noch mehr EU-Fördergelder, als bislang bereits bewilligt wurden.

 

Weitere LP-Artikel zum Thema:

Arbeitspapier der EU-Kommission bemängelt die lettische Sozialpolitik

Zehn Jahre EU-Mitgliedschaft brachte Lettland Vorteile – Teil 2: Eurostat-Sozialdaten

 

Externe Linkhinweise:

fes.de: Dauderstädt, Keltek - Das soziale Europa in der Krise (PDF)

Fisk?l?s discipl?nas padome: N?kam? gada budžet? b?s vajadz?ga 113,8 miljonu eiro konsolid?cija




 
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