Flüchtlinge kehren enttäuscht nach Lettland zurück
09.12.2016
„`Wie denken Sie über Deutschland?` Was die Leute alles von mir wissen wollen! `Nach Deutschland mag ich auch nicht gehen.` `Warum, Deutschland ist doch ein recht hübsches Land (...)` `Nein, ich mag die Deutschen nicht. Wenn ihnen die Rechnungen vorgelegt werden, dann sind sie die Entsetzten, und wenn sie die Rechnungen nicht bezahlen können, dann sind sie die Besetzten.` (…) Da könnte ich nie die unterste Schicht der Mittelklasse erklimmen und ein wertvolles Mitglied der menschlichen Gesellschaft werden`“ B. Traven: Das Totenschiff Der lettische Ort Mucenieki, wo sich eine Unterkunft
für Asylbewerber befindet, Foto: Saite
Kein Erbarmen im Hippie-Staat Deutschland
Die lettischen Behörden hatten 23 Flüchtlingen Anfang des Jahres genehmigt, in der Baltenrepublik bleiben zu dürfen. Sie waren aus den Kriegsgebieten in Syrien oder Irak oder vor der Diktatur in Eritrea geflohen, waren in den Aufnahmelagern Italiens und Griechenlands gestrandet und wurden nun im Rahmen eines EU-Verteilungsabkommens nach Lettland gebracht. Im September machten sie Schlagzeilen: Fast alle hatten sich auf den Weg nach Eiropas bag?t?k? valsts, Europas reichstem Land, Deutschland, gemacht, später auch das letzte Pärchen, das damals noch von lettischen Journalisten befragt wurde. Die lettischen Unterstützungszahlungen erwiesen sich als derart dürftig, dass die Lettland Zugewiesenen nicht einmal eine bescheidene Unterkunft anmieten konnten (Die LP berichtete darüber). Da schien Deutschland die letzte Rettung. Schließlich gilt es wegen seiner Flüchtlingspolitik neuerdings als mitfühlender „Hippie-Staat“, der einem britischen Politologen unheimlich ist. Und die Botschaften des deutschen Journalismus, z.B. „Deutschland ging es noch nie so gut wie heute“ von welt.de, kommen via Internet, in anderen Sprachen verbreitet, auch in ferne Länder an, auch in Afrika, auch im Nahen Osten und auch in den Kriegsgebieten, in denen sich deutsche Waffen befinden. Das Kleingeschriebene, nämlich, dass es zwar der Wirtschaft Deutschlands gut geht, aber längst nicht allen seinen Einwohnern, verschwindet auf der Datenautobahn zwischen Berlin und Mossul. Nun melden lettische Internet-Portale: Diese Flüchtlinge, die Hilfe von den Deutschen erhofften, kehren frustriert nach Lettland zurück. Die deutschen Behörden verweigerten ihnen jegliche Unterstützung.
Ein Leben auf der Straße droht
Das Webportal la.lv zitiert aus einem Bericht, den der Privatsender LNT am 8.12.2016 ausstrahlte. Die TV-Journalisten interviewten einen Iraker, der zu den 23 Betroffenen gehörte. Er hat eine Frau und sieben Kinder. Deutschland sei seine letzte Hoffnung gewesen. Seine Schwester lebe ebenfalls als Flüchtling dort. Die Deutschen hätten ihm eine Arbeitserlaubnis und jegliche finanzielle Unterstützung verweigert. Die Behörden hätten auf lettische Zuständigkeit verwiesen. Nun ist die Familie wieder zurück. Lettland hat inzwischen 154 Flüchtlinge aufgenommen, auch von den später eingetroffenen hatten einige Illusionen über Deutschland: „Mehr als 60 Flüchtlinge aus Lettland sind in Deutschland,“ sagte der irakische Familienvater den LNT-Journalisten: „und sie alle dürfen nicht arbeiten. Ich hörte, dass viele, die von Lettland aus weiter fuhren, dort nichts erreicht haben, uns wurden in Lettland Fingerabdrücke genommen, die Deutschen sehen das und schicken uns zurück.“ Er denkt, dass auch die übrigen zur Rückkehr gezwungen seien oder sie müssten illegal in Deutschland arbeiten. Ihm und seiner Familie drohe nun wie den anderen Rückkehrern ein Leben in Obdachlosigkeit: „Wenn sie zurückkehren, übernachten sie im Bahnhof oder schlafen auf der Straße, denn das Geld reicht nicht. Ich bleibe schon in der zweiten Nacht bei Freunden, aber das kann nicht die ganze Zeit so bleiben.“ Völlig aussichtslos ist die Lage dennoch nicht. Auch Lettland hat Helfer. Sie engagieren sich in der Initiative „Ich möchte Flüchtlingen helfen“. In Windeseile organisierten sie für die irakische Familie eine Spendenaktion. Damit wurde bereits ein Zahnarztbesuch bezahlt. Zudem soll damit die Kaution für eine Mietwohnung aufgebracht werden. Aber Helferin Ieva Raubiško protestiert auf brivbridis.lv dagegen, als Lückenbüßerin für Aufgaben benutzt zu werden, die die Regierung übernehmen müsste: „Man kann doch nicht erwarten, dass diese ganze Last von Privatpersonen und Organisationen getragen wird, man kann nicht solche Aufgaben von den Schultern des Staates auf Bürgerinitiativen abladen. Wir werden nicht imstande sein, die notwendige Unterstützung zu leisten.“ Ein Flüchtling erhält als Familienoberhaupt 139 Euro pro Monat, Familienmitglieder 97 Euro. Die Initiative hofft, dass der politische Druck auf lettische Politiker steigt, so dass sie gezwungen werden, höhere Unterstützungszahlungen zu beschließen. Ob überhaupt und wie die lettische Regierung den Rückkehrern fortan einen menschenwürdigen Aufenthalt sichert, ist vorerst unklar. Im Sozialministerium hat sich erst mal eine Arbeitsgruppe gebildet.
In manchen deutschen Ausländerbehörden ist „Welcome“ ein unbekanntes Fremdwort
Das Image des Hippie-Staates Deutschland ist schwer angekratzt. Die vielen unermüdlichen deutschen Helfer, freiwillige und professionelle, ertragen mancherorts nicht nur Internet-Shitstorm, sondern auch zerbrochene Fensterscheiben, zerstochene Autoreifen und sogar Brandanschläge. Sogenannte „Biodeutsche“ drohen, ihnen die Fresse zu polieren, was für DaF-Lerner formuliert bedeutet: das Gesicht eines anderen mit der geballten Faust unter Einsatz von Gewalt umzuformen. In mancher deutschen Ausländerbehörde, bei der die Amtssprache gefälligst Deutsch zu sein hat, ist „Welcome“ ein unbekanntes Fremdwort, zum Beispiel in Sömmerda. In der internationalen Politik rechnet die Bundesregierung längst klammheimlich mit den Zaunbauern in Ungarn und Mazedonien. Würde die Türkei, wie jüngst vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdo?an angedroht, das umstrittene Flüchtlingsabkommen mit der EU tatsächlich kündigen, könnte Angela Merkels Wiederwahl im nächsten Jahr gefährdet sein. Doch EU-Türkeikenner halten aus wirtschaftlichen Gründen eine Kündigung für wenig wahrscheinlich.
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