Lettisches Centrum Münster e.V.

   

Die baltische Furcht vor dem weißrussischen Ostrovets
06.05.2016


Lukaschenko lässt ein schönes Atomkraftwerk bauen

Neris in VilniusDie ständige Unsicherheit, die Aachenern das belgische „Tihange“ und Freiburgern das französische „Fessenheim“ bereitet, könnte zukünftig auch Balten beim weißrussischen Ortsnamen „Ostrovets“ überkommen: Die Unsicherheit entsteht aus der Gefahr radioaktiver Verseuchung, die bei einem Störfall im nahegelegenen Atomkraftwerk des Nachbarlandes droht. Die Minsker Regierung plant seit 2012, an der Grenze zu Litauen das erste eigene Akw zu errichten. Russland stellt dafür Kredite bereit. Die Tochterfirma Atomstroiexport der russischen Konzernbehörde Rosatom baut derzeit die umstrittene Anlage. Bereits 2018 soll der erste von zwei Blöcken Strom liefern. Das Akw Ostrovets befindet sich 30 Kilometer von der litauischen und 110 Kilometer von der lettischen Grenze entfernt. Im Falle des „GAU“ (Größten anzunehmenden Unfalls) erreicht radioaktiver Ostwind die litauische Hauptstadt Vilnius bereits nach 50 Kilometern. Aus der Neris, die aus Weißrussland kommend Vilnius durchfließt, soll das Kühlwasser entnommen werden. Während der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko das erste eigene Akw rühmt, beklagen Litauer die Informationspolitik des Nachbarn und wollen mit internationaler Hilfe den Bau stoppen. Lettische Energieexperten teilen die litauischen Befürchtungen.

Die Neris in Vilnius, Foto: Es wird Beny Shlevich als Autor angenommen (basierend auf den Rechteinhaber-Angaben). CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=307302

 

Deutscher Hersteller MTU liefert Notstromaggregate

Gun?rs Valdmanis, Korrespondent des Lettischen Radios, zitierte in seinem Beitrag vom 2.5.2016 Lukaschenko: Man habe sich geeinigt, das beste Atomkraftwerk zu errichten. Es werde nicht nur schön gebaut, sondern auch beispielhaft für andere Reaktorblöcke, was Konstruktion und Effizienz betreffe. Spezialisten aus Weißrussland und aller Welt seien beteiligt. Sie seien sich einig, dass es ein schöner Bau werde, ein Atomkraftwerk, wie es noch nie gebaut worden sei. Dabei verspricht der weißrussische Autokrat, dass die Erbauer vorgesehene Fristen und Finanzierung einhalten werden. Neben Russen sind auch Deutsche am weißrussischen Nuklearprojekt beteiligt: Die Friedrichhafener MTU, Hersteller von Dieselmotoren, erhielt den Auftrag, zehn Notstromaggregate zu liefern. 30 Jahre nach Tschernobyl und fünf Jahre nach Fukushima lobt Lukaschenko die Kernenergie wie in alten Zeiten, ein Lob, das den Skeptikern in den Ohren dröhnt. Die Anweisung des Staatspräsidenten an die Bauleute, sich strikt an Kostenplan und Termine zu halten, verstärkt die Zweifel, ob Sicherheit oberstes Gebot weißrussischer Nuklearpläne ist. Es klingt wie eine Zwangseröffnung des Berliner Flughafens ohne Brandschutz, nur wären die Folgen im Katastrophenfall viel verheerender. Die litauischen Expräsidenten Vytautas Landsbergis und Valdas Adamkus appellierten im Januar an die eigene Regierung, sämtliche Möglichkeiten zu prüfen, um die Fertigstellung des weißrussischen Meilers aufzuhalten. Ostrovets wird zum Reizthema der litauischen Öffentlichkeit. Juris Ozoli?š, ehemaliger lettischer Energieminister, teilt die Sorgen der südlichen Nachbarn. Die Wahl des Standorts sei nicht nachvollziehbar, das Akw werde fernab von den weißrussischen Industrieregionen errichtet. Falls ein Baustopp nicht erfolge, müssten die Litauer den nächsten Schritt einleiten, nämlich verhindern, dass Weißrussland seinen Atomstrom an die baltischen Nachbarn und an andere EU-Länder verkaufen könne. Es müsse verhindert werden, dass sich dieses Projekt ökonomisch rechne.

Russisches Akw der Generation III+

Ein Kraftwerk der Generation "III+" im russischen Nowoworonesch, Foto: Rosenergoatom - (Originaltext: http://www.rosenergoatom.ru/media/files/magazine/REA0_0108.pdf (Seite 32/33))Original uploader was TZV at de.wikipedia, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11913478

Eine weitere Entscheidung zwischen West und Ost

Allerdings ist Litauen von weißrussischen und russischen Stromimporten abhängig. Im Jahr 2009 wurde Ignalina, das litauische Akw mit den stärksten Reaktorblöcken weltweit, auf Druck der EU geschlossen. Die Litauer planten mit Beteiligung der baltischen Nachbarn einen neuen Atommeiler. Doch die Katastrophe von Fukushima bedeutete auch für litauischen Atomstrom das endgültige Aus: Im Referendum von 2012 entschieden sich die Litauer gegen den Plan, in Visaginas, im Dreiländereck zu Lettland und Weißrussland, ein neues Akw zu errichten, seitdem muss Lettlands südlicher Nachbar den größten Teil seines Stroms importieren. Die Balten wünschen nicht zuletzt aus politischen Gründen mehr Unabhängigkeit vom russischen und weißrussischen Energiemarkt. Dies erfordert eine bessere Anbindung an das Stromnetz der westlichen EU-Länder. Ein Verzicht auf weißrussischen Atomstrom könnte baltische Kilowattstunden verteuern. Providus-Energieexperte Reinis ?bolti?š äußerte gegenüber dem Lettischen Radio dennoch die Ansicht, dass Lettland den litauischen Widerstand unterstützen müsse: Die Leitmotive der EU-Energiepolitik seien Energiesicherheit, Solidarität unter den Mitgliedstaaten und wechselseitiges Vertrauen. Derweil beklagen Litauer die Informationspolitik des östlichen Nachbarn. Die Weißrussen informierten weder über die Folgen für die Umwelt noch über die zukünftige Deponierung des radioaktiven Abfalls und auch nicht über das Risiko, das für Vilnius bestehe. Sie missachteten internationale Standards. Weißrussische Befürworter des neuen Atomkraftwerks weisen die baltische Kritik zurück. In Valdmanis` Beitrag unterstellt ein weißrussischer Ingenieur den Litauern politische und wirtschaftliche Motive. Trotz des Referendums plane Litauen weiterhin ein eigenes Akw, über Visaginas` Ende sei nicht endgültig entschieden. Auch Michail Filimonow, der Leiter des Akw Ostrovets, hält litauische Vorwürfe für unberechtigt. Seine Verwaltung habe litauischen Anfragen stets entsprochen, alles sei beantwortet worden. Sorgen um die Sicherheit seien unbegründet. Das Kraftwerk sei ein Kraftwerk einer anderen Generation und einer anderen Klasse. Die Zeit des Akw Ignalina sei lange vorüber. „Heutzutage bauen wir ein Kraftwerk der Generation III plus.“


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Externe Linkhinweise:

mtu-report.com: Rolls-Royce-Tochter MTU liefert zehn Diesel-Notstromaggregate für Kernkraftwerke in Weißrussland

lsm.lv: «?sten?bas izteiksme» Lietuvas sprungu?i KNÜPPEL Baltkrievijas AES rite?os – baž?s par droš?bu un Baltijas tirgu

lsm.lv: L?dz aptur?t Baltkrievijas AES projektu

tvnet.lv: Lietuva: Ostrovecas AES droš?bas liet?s j?iesaista starptautisk?s organiz?cijas

 




 
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